Page - 339 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 339 -
Text of the Page - 339 -
339
liegen gelassen. Ich habe gedacht, das gehe ich dann holen, wenn es dunkel ist.
Das Tor zugemacht, bin herunter. Da beim Hof bin ich heraus. Bei der Decke
vom Stall bin ich herunter, dass mich die nicht kommen gesehen haben. Und
dann sind wir dann, ich und der HX, draußen da, sind wir es geschwind holen
gegangen, wo es einmal dunkel geworden ist. Und dann haben wir es auch
herunter. Beim HX draußen haben wir es „ausgezogen“432. Und dann habe
ich es dann herein, und habe ich es ein bisschen eingesalzen, in eine Fleisch
[unverständlich] hinein. Zugedeckt und ein bisschen Sägemehl drauf getan,
und dann habe ich es eingegraben. [lacht] Einen Tag. Und dann habe ich
gedacht […]: Oh, der CP „hot jetzt nüt nötigr“433 und geht zum „Forschtr“434
hin, zum LV, und erzählt ihm das. Das ist aber nicht der Fall gewesen. […]
Und dann, am Sonntag darauf musste man auch wieder ins Tal hinunter in
die Messe. Und da ist noch keine Straße gewesen, damals. Und da komme
ich da hinunter. Und der DP, wo auch es gesehen hat, der kommt grad auch
daher. Wir sind da halt zusammen gekommen. Dann hat der DP gesagt: „So,
ist der Rehbraten gut gewesen?“ Ja, habe ich gesagt, ich habe es nicht zugege-
ben. Ich habe gesagt: „Ich habe keinen Rehbraten gehabt.“ – „Ja, kannst du
gut schießen?“ hat er gesagt. [I und EF lachen laut] Weil sie halt den Schuss
gehört haben, und das Reh ist halt umgefallen. [lachen] „So, ja kannst du gut
schießen?“ [I und EF lachen] Ja. „Jo, des hot mi Wondr gno“435, sie haben mich
nicht verraten.
I: Aha. Aha. Aha. Ja toll.
EF: Ja, ja. Ja, es ist schon ziemlich ein freches Stückchen gewesen. Wenn die
oben da beim Mähen sind. Und sie sehen ja das Reh da auch, gell? [lacht] –
„Ja, kannst du gut schießen?“ [I und EF lachen] Ja, ja. Ja, ja.
Wie bei den allermeisten Wilderergeschichten handelt es sich auch bei dieser
Erzählung um eine humorvolle Darstellung – was bereits am häufigem Lachen der
Interviewerin und EFs erkennbar ist –, die, neben der Selbstdarstellung des Erzäh-
lers, vor allem eine unterhaltende Funktion hat.
Einen interessanten Aspekt in EFs Erzählung stellt die Beschreibung des
Zusammenhalts der Bauernfamilien gegen den Förster dar. Einerseits geht aus
EFs Darstellung hervor, dass die betreffenden Nachbarn selbst dem Wildern nicht
abgeneigt waren und hier mit dem Erzähler quasi eine Interessengemeinschaft bil-
deten. Andererseits ist die Interpretation des Wilderns als rebellischer Akt gegen
die Obrigkeit sehr verbreitet, besonders in Kunstformen wie Liedern oder litera-
rischen Werken, sodass auch hier angenommen werden kann, dass EF auf einen
Akt der Solidarität, in Form vom Schweigen der einfachen Bauern gegenüber den
Behörden, anspielt. In einem anderen Interview erzählt der 1915 geborene YB bei-
spielsweise stolz, wie die Gendarmerie offiziell nach dem unbekannten Wilderer in
432 gehäutet.
433 sinngemäß: kann es nicht erwarten.
434 Förster.
435 Ja, das hat mich gewundert.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439