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geschichte helfen Leitlinien, die Lebenszeit sinnvoll in Ordnungskategorien zu
gliedern, und unterliegen damit dem Zwang zur Einhaltung der Zeitenfolge.436
Dabei lässt sich anhand der vorliegenden lebensgeschichtlichen Erzählungen, wie
übrigens auch anhand anderer Quellen, feststellen, dass der berufliche Werdegang
besonders in der männlichen Autobiografie eine Rolle spielt. Während Männer
ihr Leben häufig als Geschichte einer beruflichen Entwicklung darstellen, machen
Frauen tendenziell beispielsweise die Familie zum zentralen Lebensthema.437
Diese verbreiteten Klischees entsprechende Feststellung kann einerseits mit
der eher traditionellen Sozialisierung der befragten Generationen während der
1930er, 1940er und 1950er Jahre erklärt werden. Andererseits sind die themati-
schen Schwerpunkte der Geschlechter auch auf den Hintergrund der Befragun-
gen zurückzuführen: Ein Teil der männlichen Erzähler wurde für ein Interview
ausgewählt, weil die Betreffenden bedeutende öffentliche Personen repräsentierten
oder in ihrem Arbeitsleben wichtige Ämter bekleideten, die gegenüber einem für
das regionale Museum tätigen InterviewerInnen-Team naturgemäß stark in die
Darstellungen der ZeitzeugInnen einflossen. Im Gegensatz dazu bekleideten nur
wenige befragte Frauen öffentliche Ämter oder Funktionen im Tal – nur ein gerin-
ger Anteil der Zeitzeuginnen hatte überhaupt die Gelegenheit, eine Berufsausbil-
dung zu machen. Insofern ist das vorliegende Kapitel klar von Erzählungen von
Männern dominiert.
Einen großen Stellenwert für das Arbeitsleben haben jene Jahre, in denen sich der
weitere berufliche Weg entscheidet. Die ZeitzeugInnen erklären fast immer aus-
führlich, vor welchem Hintergrund sie als junge Menschen eine bestimmte Aus-
bildung wählten oder ihren Berufsweg einschlugen. In den lebensgeschichtlichen
Erzählungen der untersuchten Generationen spielen zunächst die fehlenden Aus-
bildungsmöglichkeiten für die jungen MontafonerInnen eine große Rolle. Einige
ZeitzeugInnen berichten von ihrem Wunschberuf, den zu ergreifen sie nie die
Möglichkeit hatten, andere erwähnen ihre Pflichten auf dem elterlichen Hof oder
Unternehmen und Dritte wiederum beschreiben die Zwänge, die bei der Auswahl
des Berufes mitspielten. Drei Ausschnitte sollen nachfolgend einen Überblick über
die Erzählungen zum Thema Berufswahl geben:
OP ♂, geboren 1930:
OP: Ich wäre jetzt ganz gerne … ich wäre jetzt wahnsinnig gerne … ich wäre
ganz gerne Lehrer geworden. Aber das … man hat einfach daheim Arbeit
gehabt. Man hat einfach nicht … es hat einfach geheißen, du kannst nicht
gehen.
436 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 20f.
437 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 186.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439