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In AZs Erzählung, die wie gesagt nur einen Ausschnitt aus der gesamten Beschrei-
bung seiner Leidensgeschichte darstellt, gibt es keine Höhepunkte und nichts
daran ist spektakulär. Seine Stimmung beim Erzählen wirkt gedämpft und dul-
dend, der Erzähler übt sich in Dankbarkeit („Und ich muss sehr zufrieden sein, wie
ich heute noch beieinander bin“), ohne jedoch besonders glücklich zu wirken. In
den Erzählungen über Krankheiten stehen das Leid bzw. häufig die eigene Lei-
densfähigkeit im Vordergrund. Ein Leben geprägt von Schmerz und Leid ertragen
zu können und auch leben zu wollen, diese Haltung entbehrt nicht eines gewissen
Kampfaspektes.
Als „Leben im Kampf gegen das Leid“ könnte auch das Motiv der nachfolgen-
den Erzählung der 1926 geborenen WD bezeichnet werden. Die Erzählerin bringt
ihren Kampf darin bildhaft zum Ausdruck.
WD: Ja mein … der Fuß hat mich halt immer begleitet. Das ist einfach … ein-
fach mein Bösewicht gewesen. Ich habe ja immer … „i hon aber net lugg lo“494.
Ich habe immer Krieg gehabt mit meinem Bösewicht. Das ist eine angebo-
rene Missbildung der Venen und Arterien. Die sind verkrüppelt vom rechten
Knie abwärts, einfach so auf die Welt gekommen. Von was weiß kein Mensch.
Kein Mensch. Und sie haben es auch lange, viele Jahre nicht erkannt. Erst
der Dr. Judmaier hat es erkannt in Innsbruck, und hat es mir noch auf dem
Papier aufgezeichnet, was das überhaupt ist und was man da machen kann.
Und da hat man zum ersten Mal zu mir gesagt: „Bein ab.“ Und da bin ich
im vierten Monat schwanger gewesen beim Hansi. Aber dem Büblein hat es
nichts gemacht bei dieser Operation. Gar nichts. Es hat ihm nichts gemacht.
Er musste noch warten, noch 37 Jahre.
I: Bein ab. Ist es ab?
WD: Nein, nein. Ich habe es nicht machen lassen. Nie. Und dann noch einmal
in Feldkirch unten, der Oberarzt Rein hat auch einmal zu mir gesagt: „Bein
ab“. Vor ein paar Jahren. Noch nicht so lange her. Und da habe ich gesagt:
Nein. „I komm allig wedr z’Weg.“495 Ich bin es ihm immer wieder gewesen,
diesem Bein. Immer. Ich musste immer kämpfen. Ich musste einfach immer
kämpfen. Immer. Ich bin durch das, weil ich auch viel alleine gewesen bin,
trotz meinen Schmerzen, musste ich viel kämpfen. Und ich habe auch meine
Tiere gebraucht. Die habe ich gebraucht, neben den Kindern, meine Tiere, um
sie zu pflegen, Hund und Katze, und Hasen habe ich gehabt. Einmal habe ich
40 Hasen gehabt.
WD betont immer wieder, „nicht aufgegeben“ zu haben, bezeichnet ihr Bein als
„Bösewicht“, dem sie sich aber stellt, indem sie zweimal die ärztlich empfohlene
Amputation zurückweist, und schließlich fasst sie zusammen, dass sie „immer
kämpfen musste“, und benennt ihre Kinder und Haustiere als Quellen der Kraft
für diesen Kampf. In WDs Erzählung kommt, wie auch in den Erzählungen über
494 ich habe aber nicht aufgegeben.
495 Ich komme immer wieder auf die Beine.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439