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Auffallend sind die szenenartigen Beschreibungen der Erzählerin, die Bilder vor
dem geistigen Auge entstehen lassen, die einerseits aus den sehr lang zurückliegen-
den Erinnerungen rühren sowie andererseits auf das damalige Alter der Zeitzeugin
zurückzuführen sind. Gerade mal sechs Jahre alt, wurden im Gedächtnis eher bild-
hafte Eindrücke des überwältigenden Ereignisses behalten, als Zusammenhänge,
Hintergründe und Eckdaten, die sich meist Erwachsenen besser erschließen. Mit
großer Wahrscheinlichkeit sind auch in dieser Erzählung die Mechanismen der
Konfabulation wirksam. Im Zuge des wiederholten Erzählens kommt es ohne
bewusste Absicht zu einem Ausschmücken der Geschichte sowie zu einem Ver-
festigen ebenjener Bilder, die man schließlich meint, noch „genau vor Augen zu
haben“.503
Ein weiteres immer wiederkehrendes Thema in Erzählungen ist die Beschreibung
einer nie zuvor gekannten Hilflosigkeit angesichts der Katastrophe. Diese Hilf-
losigkeit kann nach ersten Erfolgen bei der Bewältigung in große Dankbarkeit
umschlagen, wie auch im Gespräch mit der 1920 geborenen QJ deutlich wird:
QJ: Im Jahr 1999, es war Pfingsten, gab es eine große Murenkatastrophe. Der
Bach neben dem Haus ging über. Vom Peter Vonbank die Frau hat angerufen,
ob sie mir helfen könnten. Diese Familie kannte uns von früher, als wir noch
in der Flurstraße wohnten. Es kamen zwei Männer, die Bretter und Steine
beim Bach anbrachten. In der Nacht jedoch kam das Wasser und ich hatte
noch nie eine solche Hilflosigkeit gespürt. In den Keller drang das Wasser ein.
Die Montjolastraße war ein einziger Bach. Aber ich habe Nachbarschafts-
hilfe erfahren, jeder hat geholfen, wo er nur konnte. Mein Nachbar Christian
und ich haben alle Nachbarn als Dank für die Hilfe in die Montjola Nova zu
einem Büffet eingeladen. Das war ein sehr schöner Abend. Später entstand
dann noch ein Straßenfest bei den unteren Nachbarn, dieses werde ich auch
nie vergessen. Ich habe mit Leuten gesprochen, mit denen ich vorher nicht gut
bekannt war.
Hilflosigkeit ist aber nicht nur ein Erzählstoff der Opfer, sondern wird auch von
den Helfenden thematisiert. Das Ohnmachtsgefühl wird umso größer, wenn es
den Helfenden nicht gelingt, sich zu organisieren und geordnet Hilfe zu leisten.
Der 1934 geborene CD erinnert sich an die Rettungsarbeiten nach der Montjo-
la-Lawine 1954:
CD: Und dann sind wir da drei, vier Männer miteinander hinauf, im Mor-
gengrauen da muss man sagen, und sind auch bei Tagesanbruch schon in der
Montjola oben gewesen. Und ausgeschaut hat es katastrophal. Da hast du
vom toten Huhn bis zum Federbett und Spiegel, alles ist herum gelegen. Und
da stehst du wehrlos da. Da weißt du nicht, wo du anfangen sollst, wo muss
ich da Leute suchen. Kein Kommando, noch niemand da gewesen. Die Feuer-
503 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 43.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439