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auf viele Erzählstoffe als musterhaft. In diesem Zusammenhang kann durchaus
von Erzähltraditionen gesprochen werden.
Ein gutes Beispiel für Erzähltraditionen und Mustererzählungen bieten etwa
die Geschichten von den Franzosengängern in der eigenen Familie. Hier werden
den Ahnen, meistens dem Vater oder Großvater, besondere Fähigkeiten, wie etwa
handwerkliches Geschick, Kenntnisse der französischen Sprache, Weltgewandt-
heit und Wissen (über den traditionellen landwirtschaftlichen Alltag im Monta-
fon hinaus) und nicht zuletzt ein gewisser vorrübergehender Reichtum attestiert.
Das hohe Prestige der Franzosengänger wird zunächst in einer Aufzählung dieser
Komponenten dargelegt und am Beispiel von Anekdoten beschrieben. Die Dar-
stellungen erfolgen dabei durchgängig positiv, und ohne explizite Hinweise über-
trägt sich das Prestige des Ahnen auf die Erzählenden, die durch den Verweis auf
den Vater oder Großvater nicht zuletzt ihre Montafoner Identität zu unterstreichen
bemüht sind.
Mustererzählungen sind in Bezug auf beinahe jeden Erzählstoff festzustellen.
Zumeist ähnelt sich der Aufbau der Geschichten, ihre Argumentation und der
werthaltige Endpunkt derart, dass die Erzählungen – auch in Bezug auf sehr unter-
schiedliche Biografien – manchmal als völlig austauschbar erscheinen. Gerade in
Hinblick darauf, dass Erzählungen fast immer eine Funktion für den/die Erzähler-
In erfüllen – in den meisten Fällen geht es zumindest um Selbstdarstellung – sind
Erzählstrukturen und -muster besonders interessant, wenn es zur Darstellung sehr
emotionaler Erzählstoffe kommt.
Eine auffallende Dynamik und Emotionalität ist bei Erzählstoffen mit Bezug
auf Krisen- oder Kriegserlebnisse bzw. in Bezug auf die nationalsozialistische
Geschichte Österreichs festzustellen. Ganz offensichtlich stellt die Verquickung
von Geschichte und Lebensgeschichte in Hinblick auf die 1930er und 1940er Jahre
eine besondere Herausforderung für die ErzählerInnen dar. Erstens fielen in diese
beiden Jahrzehnte sehr prägende, biografisch wichtige Ereignisse und Erlebnisse,
über die nicht hinweggegangen werden kann. Zweitens sehen sich viele Erzähler-
Innen in einem Dilemma zwischen zwei Moralvorstellungen: nämlich einerseits
jener der historischen Zeit, in der der „Anschluss“ an das Deutsche Reich zumeist
begrüßt wurde und mitunter große Hoffnungen auf Hitler gesetzt wurden. Ande-
rerseits fühlen sich die ZeitzeugInnen in ihrer heutigen Identität, und besonders
gegenüber den jungen InterviewerInnen (als RepräsentantInnen einer sich Men-
schenrechten verpflichtenden Demokratie), mit den zeitgenössischen Moralvor-
stellungen konfrontiert, die nicht zuletzt die (mediale) Aufarbeitung der NS-Ge-
schichte und -Verbrechen vorantrieb. Viele ZeitzeugInnen scheinen sich in Bezug
auf Erzählstoffe zu den 1930er und 40er Jahren implizit kritisiert zu fühlen.
Die erzählerische Strategie, mit der dieses Dilemma zu bewältigen versucht
wird, wird im Großteil der lebensgeschichtlichen Erzählungen (mehrmals) ange-
wandt: Mittels „Rechtfertigungsgeschichten“, die persönliche Beweggründe, histo-
rische Zusammenhänge und familiäre Hintergründe darlegen und zurechtrücken
sollen, ist es den ZeitzeugInnen möglich, politisch-historisch brisante Einblicke
in ihre Lebenserinnerungen zu geben. Natürlich wurden in der Interviewsitua-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439