Seite - 37 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Erkenntnisbarrieren | 37
vollzogen werden kann.101 Schließlich gleicht mein Blick einer Vogelperspektive,
was nicht bedeutet, dass ich über den Blick auf das historische „Ganze“ verfügen
könnte. So gebärdet sich dieses Herabschauen von oben als „etisch“ (von außen)
und nicht „emisch“ (von innen) im Sinne einer „dichten Beschreibung“. Mir stehen
oder sitzen keine Grazer Zeitgenossen von 1914 gegenüber, die sich gegen meine
„Beobachtungen“ und Einschätzungen wehren könnten. Meine jeweiligen Quel-
len (sprich die „gehortete Vergangenheit“102, die von mir befragt wird) können
nicht von sich aus sprechen, sondern sie – sie unter Anführungszeichen – „ant-
worten“ nur auf meine Fragen. Sie verfügen von sich aus über keine explizite Aus-
sagekraft, zumindest ist das meine von Reinhart Koselleck übernommene – und
nicht letztbegründbare – Annahme.103 Meine Analyse schafft daher nur jene Form
von Vergangenheit, die sich aus den Bedingungen und Interessen der Gegenwart
ableitet. Und das heißt letztendlich, Aussagen über eine historische Episode zu
treffen, die in dieser „Zeit“ nie gemacht wurden. Der erste und zugleich wichtigste
Ansatz dieser Arbeit fußt daher auf dem kanonisierten Leitspruch von Reinhart
Koselleck, den er 1970 am „Deutschen Historikerkolleg“ in Köln formulierte: Die
„Vergangenheit ist vergangen und als Vergangenheit nicht mehr zu bewältigen –
höchstens in unkritischer Weise zu vergewaltigen.“104 Denn die „Doppeldeutigkeit
von ‚Vergangenheit‘, auch Gegenwart zu sein, wird verkannt, wenn man glaubt, die
Vergangenheit aufarbeiten zu können.“105 Die hier gewählte Zugriffspraxis lotet
nämlich diverse geschichtswissenschaftliche Lücken mittels immanenter Quel-
lenexegesen106 und Vetorechts der Quellen107 aus. Das bedeutet streng genommen,
101 Innerhalb der Alltagsgeschichte, der Historischen Anthropologie und der Mikrohistorie vertre-
ten – konträr zu meinem auf Jörg Baberowski aufbauenden Ansatz – u. a. Alf Lüdtke und Birgit
Stalder die Ansicht, dass eine „dichte Beschreibung“ trotz des Fehlens lebender Mitmenschen
möglich sei. Vgl. Baberowski (2009) und (2008). Ferner eben: Lüdtke (32007) und Stalder (2008),
37–40. Die bahnbrechende Anthologie von Clifford Geertz ist nicht im Literaturverzeichnis an-
geführt. Zu Geertz vgl. Moebius (22010), 111–114.
102 Begriff nach Reinhart Koselleck (2010b), 70.
103 Ich beziehe mich hier auf den Aufsatz „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur histo-
riographischen Erschließung der geschichtlichen Welt“ von: Koselleck (72010b).
104 Ich zitiere hier seinen Vortrag „Wozu noch Historie?“, vgl. Koselleck (1971), 1.
105 Koselleck (1971), 1.
106 Koselleck (72010b), 204 f.: „Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Ge-
schichte zeugt. Sonst wäre jede klar fließende Quelle selber schon die Geschichte, um deren Er-
kenntnis es uns geht. [...] Die Geschichtswissenschaft ist von vornherein genötigt, ihre Quellen
zu befragen, um auf Ereigniszusammenhänge zu stoßen, die jenseits der Quellen liegen.“
107 Koselleck (72010b), 206: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sol-
len. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen
haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453