Seite - 60 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen60
kritik, das sehr ambivalente Positionen zwischen dem Militär und Teilen der Zivil-
bevölkerung auffächert.220 So stieß der „Zauber der Montur“221 bzw. der „Glanz der
Montur“ sehr schnell und vielfach bereits dort an seine Grenzen, wo er „mit ge-
genläufigen konkreten Bedürfnissen, Interessen und Leitbildern der Menschen in
Konflikt“ trat.222 Wenngleich nicht wenige Menschen die k. u. k. Armee ablehnten
oder ihr zumindest Misstrauen entgegenbrachten223, so steht dennoch die lange
vor dem Krieg einsetzende Militarisierung aus heutiger Sicht außer Frage. Letzt-
endlich markieren beide Prozesse – sowohl die Ablehnung militärischer Gewalt
als auch die (erzwungene, erduldete, arrangierte oder gewollte) Militarisierung –
das sogenannte „nervöse Zeitalter“, als Europa sinnbildlich taumelte.224 Auch die
Grazer Straßen trugen bereits weit vor 1914 ihre militarisierten bzw. gewaltsamen
Züge225, die sich im Krieg graduell verstärkten und schließlich die Erste Repub-
lik226 maßgeblich bestimmten: zwischen 1918 und 1934 wurde im Durchschnitt
fast jede Woche eine Österreicherin oder ein Österreicher aus politischen Gründen
getötet.227 Was aber nicht zu der Annahme verleiten darf, dass der Erste Weltkrieg
grundsätzlich breite Bevölkerungsschichten „brutalisierte“ und autoritär werden
ließ.
Drittes Leitpanorama: Der Begriff „Heimatfront“ existierte bereits lange vor
1914. Im Ersten Weltkrieg wurde er jedoch erst ab der zweiten Kriegshälfte und
selbst dann nur selten zur Beschreibung des Hinterlands herangezogen.228 Dieser
Befund deckt sich mit meinen Recherchen, zumal ich nirgendwo in den hier heran-
gezogenen Quellen (aus den ersten Kriegsmonaten) den Begriff „Heimatfront“ an-
traf. Wenn in den Quellen von Graz und der Steiermark die Rede war, dann sprach
man diesbezüglich von „Graz“, der „Steiermark“, dem „Kronland“, dem „Herzog-
tum“, dem „Hinterland“, der „Heimat“, der „grünen Mark“229 oder dem „Vaterland“.
220 Hämmerle (2007).
221 Der Zauber der Montur, in: Arbeiterwille, 25.2.1914, 8.
222 Hämmerle (2005), 117.
223 Ebd., 118.
224 Zum Begriff „nervöses Zeitalter“ vgl. insbesondere: Radkau (1998), des Weiteren: Eckart (2014),
21–32; Ullrich (2003). Philipp Blom (22011) schildert aus meiner Sicht in seinem Buch „Der tau-
melnde Kontinent. Europa 1900–1914“ sehr eindrucksvoll die damalige Atmosphäre zwischen
den Staaten, den Milieus und den Geschlechtern.
225 Moll (2007a); (2007b) und (2006b).
226 Grundlegendes zur Ersten Republik in: Konrad/Maderthaner (2008).
227 Ich stütze mich hier auf: Botz (21983).
228 Vgl. den Lexikonartikel „Heimatfront“ von Martin Baumeister in: Hirschfeld/Krumeich/Renz
(22014), 993–994.
229 Abschied!, in: Grazer Volksblatt, 11.8.1914 (12-Uhr-Ausgabe), 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453