Seite - 62 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen62
„Heimat“ in den Krieg234, was dazu führte, dass sie diverse Grazer Alltagserschei-
nungen lobten und andere Alltagsmomente dagegen stigmatisierten, kriminalisier-
ten oder skandalisierten. Das Hinterland galt anfänglich in diesem „Volkskrieg“235
als ein von der Front separierter Ort, an dem zwar gelitten und gehungert, aber
nicht getötet bzw. gestorben wurde. Mittlerweile ist die Forschung von dieser An-
sicht definitiv abgerückt.236 Zu Kriegsbeginn schien aber das Hinterland durch sein
„Aufopfern“, „Dienen“ und „Pflegen“ mehr ein passiv unterstützender Zulieferer
der Front zu sein als ein aktiver und ebenso kriegsentscheidender Part. Mit der
Front verband man üblicherweise das Kämpfen, Töten, Beschützen und Sterben.
Und aus diesem (damaligen) Blickwinkel war sie somit wichtiger und leidgeplagter
als das Hinterland. Des Weiteren arbeiteten Forscherinnen und Forscher heraus,
dass es nicht die eine spezielle Form der „Heimatfront“ gab und die unterschied-
lichen Fronten und „Heimatfronten“ sowie die jeweiligen Etappen237 auch nicht
unabhängig voneinander existierten. In vielen Regionen kam es zu massiven mili-
tärischen Übergriffen auf die (fremde und/oder eigene Zivilbevölkerung).238 Graz
wurde während des Kriegs nie zu einem Ort klassisch soldatischer Kampfhand-
234 Zunächst in den „Serbienkrieg“ und dann in den Weltkrieg.
235 Der Begriff „Volkskrieg“ fand sich mehrmals in den Quellen, vgl. allein Peter Roseggers Aussage:
„Es sind nicht bloß Diplomatenkriege, es sind Volkskriege.“ Aus: Heimgärtners Tagebuch, in:
Heimgarten (1914), Nr. 1, 59. Peter Rosegger sprach auch von einem „Völkerkrieg“, vgl. Heim-
gärtners Tagebuch, in: Heimgarten (1914), Nr. 1, 66. Der Schriftsteller Peter Rosegger (1843–
1918) war und ist für viele Menschen eine „Leitfigur“ der Steiermark und darüber hinaus. Ihn
attestiert(e) man von unterschiedlichen Seiten hohe Deutungskompetenz in allen Dingen. Zu
Kriegsbeginn trat Rosegger in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Heimgarten“ sowie
in Leitartikeln der bürgerlichen Presse vielfach in Erscheinung. Das erste auf den Krieg ausge-
richtete „Heimgärtners Tagebuch“ (seine Kolumne im Heimgarten) ist im Gegensatz zu seinen
vorkriegszeitlichen Kolumnen in Tagen aufgeschlüsselt. In der Vorkriegszeit blieb die Kolumne
„Heimgärtners Tagebuch“ im Großen und Ganzen ein Essay, dessen jeweilige Absätze diverse
Normen vorgaben.
236 Zur „genderline“ luzide: Latzel/Maubach/Satjukow (2011). Mein Geschlechterverständnis be-
ruht auf der oft notwendigen „Politik der Unentscheidbarkeit“ von Joan W. Scott, vgl. den eng-
lischsprachigen Text und dessen deutsche Übersetzung in: Scott (2001).
237 Vgl. die Lexikonartikel „Etappe“ (Bruno Thoß) und „Etappenhelferinnen“ (Bianca Schönberger)
in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014), 465
f. Wichtige Bemerkungen auch in dem von der ÖAW
herausgegebenen Sammelband „Die bewaffnete Macht“, vgl. exemplarisch: Wagner (1987) sowie
prinzipiell den Buchindex.
238 Besatzungsregime, Flucht, Evakuierungen, Deportationen, Inhaftierungen bzw. Internierungen,
Zwangsarbeit, Zwangsrekrutierungen, Angriffe auf Städte, Exekutionen, Plünderungen, sexuelle
Gewaltformen, Seeblockaden, U-Boot-Krieg, Exil, Kunst- und Kulturzerstörung sowie der Geno-
zid an den Armenierinnen und Armeniern. Siehe hierzu den dritten Band der „The Cambridge
History of the First World War“, vgl. Winter (2014).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453