Seite - 67 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Argumentationsstrang | 67
manchmal fielen die Einheitsprüfungen für ein und denselben Sachverhalt unter-
schiedlich aus. Dem war so, weil es nicht das eine „Gesetz“ der „Heimatfront“ gab.
Im Gegenteil: es gab viele und teilweise entgegengesetzte (Ordnungs-) Vorstellun-
gen, wie man sich in der „Heimat“ zu verhalten habe. Aus einer mikrohistorischen
Rückschau erweist sich daher der Prozess der Einheitsbildung als ambivalent, weil
viele Alltagsmomente sowohl integrativ (produktiv) als auch desintegrativ (des-
truktiv) wirkten. Schließlich lassen sich im ersten Kriegsjahr viele Erwartungen
an den Mitmenschen, an die Stadt, an das Kronland sowie an die Monarchie grei-
fen. Und die einzelnen Vorstellungen, wie man den Krieg zu Hause, in der Etappe
sowie an der Front führen sollte, evozierten mehrere Konflikte und Koalitionen
zwischen einzelnen Gruppen. Auf der Straße führte dies dazu, dass das tägliche
Rätseln und Fragen, wer ein Freund oder wer ein Feind sei, zu einer zentralen und
erst von Situation zu Situation zu erlernenden Alltagsqualifikation wurde. Und ler-
nen musste man im Krieg unter Zeitdruck. Die Menschen, Männer wie Frauen,
mussten auf der Straße, am Marktplatz oder sonst wo neue Seh- und Hörpraktiken
kultivieren, um so in Erfahrung bringen zu können, wo Gefahr und wo Sicherheit
herrschen könnte. Die Feindaufklärung und die Früherkennung wurden schnell
zu zentralen Kontroll- und Schutzmechanismen auf der Straße. Das Auge schaute
auf die Zeitung, auf die französische Kleidung, auf die Preistabellen sowie generell
auf den Mitmenschen. Und das Ohr richtete sich auf das Gesagte sowie auf das
Gesungene. Die Autopsie (im Sinne von Selbstgesehen und Selbstgehört) war ein
mehrfach greifbares Überwachungsinstrumentarium, zumal es sämtliche Alltags-
erscheinungen auf ihre „Einheitstauglichkeit“ prüfte. Hierbei handelte es sich auf
der einen Seite um formelle Gesetze und Verordnungen des Staats oder der Stadt
Graz, auf der anderen Seite um informelle (bzw. „ungeschriebene“) Gebote und
Verbote.257 Sie alle schrieben die „richtige“ Form des Zusammenlebens und des
Zusammenhaltens in Graz vor. Und diese (polykratischen) Ge- und Verbote wur-
den von den Zeitungen oder den Bürgerwehren täglich in Umlauf gebracht. Und
an alle diese unterschiedlichen und teilweise konkurrierenden Vorgaben mussten
sich die Grazerinnen und Grazer halten, sofern sie nicht beschimpft, bloßgestellt,
zusammengeschlagen, denunziert oder verhaftet werden wollten. Renitenz oder
vermeintliche Renitenz wurde nicht selten bestraft.
257 Verbot (Unterlassungspflicht), Gebot (Handlungspflicht).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453