Seite - 91 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Intensive Julipolemik | 91
Wahlen zur Skuptschina (Skupština), die antiserbischen Ausschreitungen (Plünde-
rungen von Geschäften, Kirchen und Schulen) sowie die weitgehend für bewiesen
erachtete Beteiligung Serbiens am Attentat. Die Liste der neuen und neuaufgeroll-
ten Themen ließe sich erweitern. Einig war sich die lokale Presse in ihrer scharfen
Verurteilung des Attentats, in ihren wohlwollenden Nachrufen auf das Thronfol-
gerpaar102 sowie in ihren Darstellungen über den neuen Thronfolger. Nach einer
wenngleich nicht emotionalen, so doch politischen „Schrecksekunde“ begann
dann die kaum steigerungsfähige Pressepolemik zwischen den einzelnen Redakti-
onen. Unterschiedlich bewertet wurden zum Beispiel diverse Regierungsmitglie-
der und Landesbeamte bezüglich ihrer Rolle in der Vergangenheit und Gegen-
wart. Darunter Leon von Bilińsiki (gemeinsamer Finanzminister), Oskar Potiorek
(Landeschef von Bosnien und der Herzegowina), Leopold Berchtold (Außenmi-
nister) oder Victor von Hochenburger (k. k. Justizminister und ehemaliger stei-
rischer Reichsratsabgeordneter).103 Als Beispiel hierfür kann auf die wöchentlich
erscheinende Grazer Vorortezeitung verwiesen werden, die den ehemaligen Au-
ßenminister Alois Lexa von Aehrenthal sowie Leopold Berchtold massiv für ihre
„Südslaven[politik]“ kritisierte.104 Und die (deutschnationale) Deutsche Zeitung,
das Parteiorgan der Pantz-Partei105, forderte den gemeinsamen Finanzminister
zum Rücktritt auf: „Das System Bilinski müßte vom Standpunkte Oesterreichs der
allerschärfsten Kritik unterzogen und seine Beseitigung verlangt werden, denn es
ist schwer bloßgestellt und jede Stunde, die es weiter dauert, ist eine Schande für
die Monarchie.“106 Es ist hier sicherlich nicht zielführend, die einzelnen Grazer Po-
sitionen zu den historischen „Altlasten“ darzulegen. Die unterschiedlichen Positi-
onen wurden mittels scharfer Pressepolemik entlang der seit Jahren bestehenden
Grazer Frontstellungen verteidigt.107 So richtete sich das publizistische Kreuzfeuer
des Arbeiterwillens massiv gegen die bürgerliche Presse und gegen das seit 1882
personell und administrativ dem Ministerratspräsidium unterstellte k. k. Telegra-
phen- und Korrespondenzbureau.108 Kaum ein anderer Artikel brachte dies so gut
102 In den Nachrufen kritisierte man nicht Franz Ferdinand. In anderen Artikeln kritisierte man sehr
wohl seine Politik.
103 Vgl. die ungedruckte (und leider oft unberücksichtigte) Dissertation von: Bachmann (1972).
104 Zum Tode des Thronfolgerpaares, in: Grazer Vorortezeitung, 5.7.1914, 1.
105 Zur kleinen, deutschnationalen Pantz-Partei siehe: Thonhofer (2013) und die dort zitierte Fach-
literatur.
106 Die südslavische Frage im ungarischen Parlament, in: Deutsche Zeitung, 19.7.1914, 2, 3.
107 Vgl. dazu auch: Bachmann (1972).
108 Zum Hintergrund vgl. den Text „Diplomatie und Pressepolitik 1848–1918“ von: Kammerhofer
(1989), 491–495. Ferner die von Olechowski (2006) angeführte Literatur und die von ihm ge-
nannten Zensurverordnungen. Zudem die Monografie von: Czech (2010).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453