Seite - 93 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Intensive Julipolemik | 93
esten authentischen Nachrichten zu bieten. Das Blatt behauptet daher, daß wir Abon-
nenten- oder Leserfang betreiben wollen. […] Wir haben zwar herzliches Mitleid mit
diesem armseligen Blatte, werden uns aber dadurch nicht abhalten lassen, außer dem
Morgen- und Abendblatt, so oft als es notwendig erscheint, Extraausgaben mit wichti-
gen Nachrichten herauszugeben.“113
Im Zuge dieser Polemik griff die Grazer Presse auf die traditionellen innenpoliti-
schen Schlagwörter, wie „vaterlandslose Gesellen“, „Judenpresse“, „jesuitische
Presse“, „Sensationspresse“ oder Ähnliches114 zurück, die einen Pressekonsens un-
möglich erscheinen ließen. Erweitert wurden derartige Skandalisierungen durch
die vonseiten der Sozialdemokratie artikulierten Stigmata der „schwarze[n] und
blaue[n] Kriegshetzerpresse“115 bzw. der „Leichenschänderblätter“116 in puncto
Außenpolitik sowie der „Mörderpresse“ bezüglich des fehlgeschlagenen Attentats
auf den „Arbeiterführer“ Michael Kosel. Im Vordergrund dieses scharfen Debat-
tierens – letztendlich nur Diffamierens – entlang parteikonformer Selbst- und
Fremdfigurationen standen sowohl etwaige militärische oder sicherheitspolitische
Konsequenzen für den „Balkan“ als auch der „richtige“ Fortbestand Österreich-
Ungarns. Die Existenzfrage nach dem (letztendlich nicht so) „kranken Mann an
der Donau“ und dessen „Völkerkerker“ forcierte die jeweiligen parteipolitischen
Standpunkte. Zu der Frage nach der „richtigen“ Behandlung Serbiens im Rahmen
einer neuen „Balkankrise“, gesellte sich nun auch eine heftige innenpolitische Aus-
einandersetzung. Dabei stellten die cisleithanische Regierungspolitik (das „Minis-
terium Stürgkh“) sowie der steirische Nationalitätenkonflikt (die virulente Slowe-
nenfrage) unverkennbar den Dreh- und Angelpunkt dieser Pressepolemik dar.117
So galt beispielsweise das Attentat aus Sicht der deutschnationalen Grazer Presse
unmissverständlich als desaströse Verwirklichung ihrer seit Langem empfunde-
nen Ängste vor der „fünften Kolonne Belgrads“. Sie meinte diesbezüglich die „Slo-
wenen“ der Steiermark, die laut der formalen Sprachzugehörigkeit der Volkszäh-
113 An unsere Leser!, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 3.
114 Vgl. z. B. Kaltes Blut bewahren!, in: Arbeiterwille, 26.7.1914 (Separatausgabe), 2.
115 Der gemeinsame Ministerrat, in: Arbeiterwille, 9.7.1914, 2.
116 Ebd.
117 Die „eine“ Nationsfrage gab es freilich nicht. Es gab mehrere Nationsfragen inklusive unter-
schiedlicher, teils widersprüchlicher und teils konkurrierender Antworten. Das gleiche gilt auch
für die anderen (noch zu besprechenden) Fragen: Lokalisierungsfrage, Verbleibfrage, Ernäh-
rungs- und Versorgungsfrage, Mietzinsfrage, Arbeitslosenfrage, Unterstützungsfrage, Postfrage,
Steuerfrage, Ausstattungsfrage, Alkoholfrage, Sexualitäts- und Sanitätsfrage, Boykottfrage oder
die Hochzeitsfrage. Sie alle könnten problemlos auch im Plural (sowie unter „Anführungszei-
chen“) stehen.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453