Seite - 139 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Abbruch der diplomatischen Beziehungen | 139
köpfige“ Menschenmenge mehrmals mit Gewalt in die Redaktion der Tagespost
(Stempfergasse) „einzudringen“.17 Ob dem wirklich so war, bleibt fraglich. Eventu-
ell handelte es sich hierbei um eine Falschmeldung, zumal die Grazer Presse, die
Arbeiter-Zeitung (Wien)18 und die hier durchgesehen Akten nichts über einen
derartigen Vorfall berichteten. Fest steht hingegen, dass es an diesem Tag enorm
regnete und dass das Warten auf die Nachricht mit Spannung erwartet wurde. Kei-
ner konnte nur annähernd abschätzen, wie der weitere Verlauf der Geschichte aus-
sehen würde. Für die hohen Militär- und Regierungskreise stand die Entscheidung
zum Krieg gegen Serbien freilich schon lange vorher fest.19 Auf der Straße wusste
man jedoch noch nichts von diesem Entschluss. Die Menschenmengen auf dem
Hauptplatz und vor den Redaktionen setzten sich aus Frauen wie Männern unter-
schiedlichen Alters zusammen. Auch die Anwesenheit von Kindern wurde ver-
merkt. Die Stimmungen vor Ort wurden im Allgemeinen als angespannt und leise
beschrieben. Als die Grazerinnen und Grazer dann ungefähr20 um 19 Uhr erfuh-
ren, dass Österreich-Ungarn die diplomatischen Beziehungen zu Serbien abbrach,
machte sich den Zeitungen zufolge bei den Menschen auf der Straße ein Gefühl
der Erleichterung breit und man begann, heftig zu reden und zu diskutieren. Pres-
seeinschätzungen wie diese erweisen sich für die Nachwelt immer als problema-
tisch, zumal die Zeitungen in derartigen Stimmungsangaben auch ihre politischen
Standpunkte einwebten oder die Artikel zur Gänze entlang ihrer eigenen Lebens-
entwürfe ausrichteten. Dennoch erscheint es aus meiner Sicht verständlich, dass
sich die wartenden Menschen erleichtert zeigten, wenn man berücksichtigt, dass
der Juli mit allen seinen Ungewissheiten in puncto politischer Großwetterlage
„nervenaufreibend“ und strapaziös war. In den Gesprächen auf der Straße traten
daher nach der Kunde vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen vorange-
gangene, sich gegenseitig oder selbst zugeschriebene, Alteritäten bezüglich Milieu,
Geschlecht und Herkunft einstweilig in den Hintergrund. Im Vordergrund stand
vielmehr die Erfahrung einer einschneidenden Nachricht, die mitunter das Ge-
fühl, dass man nun ein (vermeintlich) gemeinsames Schicksal teilte, hochkommen
ließ. Dies konnte unter Umständen diverse Anlehnungsbedürfnisse nähren oder
verstärken, zumal viele Menschen in diesen Tagen Halt bei Mitmenschen suchten.
Immerhin rückte der seit Mitte Juli diskutierte Krieg zwischen Österreich-Ungarn
und dem „kleinen“ Serbien durch den Abbruch der diplomatischen Beziehungen
17 Der Eindruck in Graz, in: Neue Freie Presse, 26.7.1914, 6.
18 Die Kundgebungen in Graz, in: Arbeiter-Zeitung, 27.7.1914 (12-Uhr-Ausgabe), 1.
19 Kronenbitter (2003a), 455–519.
20 Die Angaben in den Quellen variieren ein wenig.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453