Seite - 145 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 145 -
Text der Seite - 145 -
Die „patriotischen“ Straßenumzüge | 145
unbedenklichen „Hurrapatriotismus“ offen, zumal der Arbeiterwille vieles, was
mit den abendlichen Straßenumzügen in Verbindung stand, dem bürgerlichen Mi-
lieu zuschrieb. Diese Verengung entsprach sicherlich nicht der Realität. Stattdes-
sen ist davon auszugehen, dass sich auch einige Sozialdemokraten, Männer wie
Frauen, an den „patriotischen“ Straßenumzügen beteiligten. Dementsprechend
war der Arbeiterwille seit dem Sarajevoer Attentat sichtlich darum bemüht, jeden
Grazer und jede Grazerin, aber besonders die Arbeiterschaft, fern von „hurrapat-
riotischen“ Manifestationen zu halten. Sein Hinweis, dass der Steirerhof der „kle-
rikale Stammsitz“ von Graz sei, ist daher als ein Appell an seine Leserschaft zu
verstehen. Diesem Appell zufolge sollte man das katholisch-konservative (und das
deutschnationale) Milieu meiden. Nach der erfolglosen Akklamation an den
Korpskommandanten am Glacis zog der „patriotische“ Straßenumzug zur Grazer
Burg, dem Sitz der Statthalterei. Die angestrebte Akklamation an den Statthalter
misslang jedoch ebenfalls. Denn auch vor der Burg teilte ein Sprecher der Statthal-
terei der Menschenmenge mit, dass der Statthalter zurzeit nicht da sei. Der Tages-
post zufolge kam der Statthalter erst am 27.
Juli von einer rund einwöchigen Reise
im Gouvernement Wolhynien (Wolyn, heutige Ukraine), wo er an der goldenen
Hochzeit von Ferdinand von Radziwill und Pelagia Sapieha teilnahm, zurück.46
Enttäuscht verließen einige die Menge und gingen nach Hause oder weiter in ein
Gast- oder ein Kaffeehaus. Die verbliebene Menschenmenge zog im Regen zurück
zum Steirerhof, in der Hoffnung, den Korpskommandanten doch noch zu sehen.
Dort angekommen, erfuhr sie, dass der Korpskommandant nicht mehr da sei. Dass
in diesen Tagen Akklamationen an die „Elite“ (Offiziere, Politiker) ins Wasser fie-
len, war keine Seltenheit. Mehrmals berichtete die Grazer Presse von „patrioti-
schen“ Straßenumzügen, die – sowohl faktisch als auch im übertragenen Sinne –
im Regen stehen gelassen wurden. Graz, das damals nur sechs Bezirke hatte,
unterschied sich diesbezüglich nicht von einigen Städten Deutschlands. Schließ-
lich missglückten dort ebenfalls mehrere Ovationssversuche. Als Gründe für deren
Scheitern nennt die Forschung meistens die Ferienzeit/Sommerpause (so z. B. in
Berlin und in Hamburg).47 An den „patriotischen“ Straßenumzügen beteiligten
sich hauptsächlich der Grazer Mittelstand, Soldaten, Studierende, Gymnasiasten,
Politiker, Künstler, Journalisten und Pfadfinder.48 Meistens zogen sie zur Burg,
zum Korpskommando, zum Steirerhof, zur Universität, zur Technischen Hoch-
46 Statthalter Graf Clary und Aldringen, in: Grazer Tagblatt, 28.7.1914, 4.
47 Verhey (2000), 57 f., 70.
48 Vgl. z. B. Begeisterte patriotische Kundgebungen, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Sonderaus-
gabe), 3. Zu den Pfadfindern siehe speziell das Kapitel: Pfadfinder und Wandervogel.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453