Seite - 147 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Die „patriotischen“ Straßenumzüge | 147
rechterhaltung von „Ruhe und Ordnung“ widersprechenden – Gewaltsituationen
selbst der bürgerlichen Presse zu viel. Der Ablauf dieser auf die Abendstunden
beschränkten Straßenumzüge orientierte sich an der seit Jahrzehnten53 eingeübten
Festtags- und Denkmaltradition: Es kam zu einer Rede eines Manns aus dem bür-
gerlichen/akademischen oder aristokratischen Milieu (Zivilverwaltung, Militärs,
Studierende, Presse, Kunstmilieu, Klerus). Man passierte, involvierte und insze-
nierte Herrschaftsbauten sowie Denkmäler. Zudem stieß man Hochrufe auf die
„Elite“ (Offiziere, Politiker) aus. Ferner sang man (sofern man textsicher war) po-
litische Lieder, schwenkte Fahnen und trank alkoholische oder alkoholfreie Ge-
tränke. Nicht selten marschierte auch eine Blasmusikkapelle mit. Das Singen und
Gejubel – sowie das (plump und abwertend klingende) alkoholisierte „Grölen“ und
„Lallen“ – waren zentrale Kanäle, um „Patriotismus“, Siegeszuversicht und Kriegs-
bereitschaft zu signalisieren. Das Singen von Liedern hatte nicht nur Auswirkun-
gen auf andere, sondern bereits auf diejenige Person, die sang. Schlussendlich
konnte das Singen sowohl „patriotische“ Gefühle verstärken als auch bei einigen
diese erst evozieren. Auf die Studierenden trifft ersteres stärker zu, zumal sie nicht
sonderlich zum „Hurrapatriotismus“ ermutigt werden mussten. Überdies konnten
die Lieder etwaige „unmännliche“ und „nervöse“ Ängste kaschieren bzw. kurzfris-
tig unterbinden. Wer nun bei diesen „patriotischen“ Liedern mitsang, ist schwierig
zu bemessen. Die Zeitungen bieten diesbezüglich nur wenige und vage Hinweise.
Im Arbeiterwillen hieß es vereinzelt, dass eine „Anzahl klerikaler Studenten“ die
Kaiserhymne sang.54 Stellungnahmen wie diese sind nicht ausschließlich als par-
teipolitischer Abgrenzungsversuch zu verstehen. Ihr Inhalt entsprach durchaus
der Realität. Der Text und die Melodie der Kaiserhymne („Volkshymne“55) waren
53 Zu den Grazer Gesangs-, Turn-, Schützen-, Jagd-, Heimat- und Trachtenvereinen nach wie vor:
Leinweber (1974), des Weiteren: Moll (2007b).
54 In Erwartung der Entscheidung, in: Arbeiterwille, 26.7.1914, 5.
55 Die „Volkshymne“ erklang seit Anfang August auch wieder vom Grazer Glockenspiel (am Glo-
ckenspielplatz). Das Glockenspiel wurde von 1905 bis 1929 vom Geschäftsmann Gottfried Mau-
rer privat betrieben. Zeitgenössischen Stadtplänen und Reiseführern zufolge erklang das Glo-
ckenspiel in den Sommermonaten mitunter täglich um 18 Uhr. Die Walze spielte z. B. das Lied
„Hoch vom Dachstein an“ (Das sogenannte „Dachsteinlied“ ist seit 1929 die steirische Landes-
hymne). Einige Male spielte das – Touristen und Touristinnen anziehende – Glockenspiel auch
die „Volkshymne“. Seit Anfang Juli 1914 erklangen folgende drei Stücke: das Lied „Ich hab’ dir
in die Augen g’schaut“, das „Hobellied“ sowie das Lied „Zwei Sternlan am Himmel“. Anfang Au-
gust 1914 schaltete man hingegen wieder die „Volkshymne“ ein. Im weiteren Verlauf des Kriegs
erklang auch der „Glockenspiel-Ländler“ sowie die Lieder „Du mei flochshorats Diandl“, „Muß
i denn zum Städtle ’naus“ und „Oh, du mein Österreich“. Vgl. z. B. Das Grazer Glockenspiel,
in: Grazer Tagblatt, 7.8.1914 (Abendausgabe), 3. Abseits der regelmäßigen Zeitungskurzberichte
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453