Seite - 148 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof148
im Vergleich mit jenen der Studenten- und Soldatenlieder bekannter, was nicht
zwangsläufig bedeutet, dass die Kaiserhymne beliebter war und von allen „Hurra-
patrioten“ und „Hurrapatriotinnen“ gesungen wurde. Schenkt man den Zeitungen
ungeachtet ihrer „Couleur“ Glauben, war die Kaiserhymne immerhin jenes Lied,
bei dem die meisten Menschen mitsummen, dazu „grölen“ oder zumindest ver-
satzweise mitsingen konnten. In der bürgerlichen Presse hieß es diesbezüglich pa-
thetisch: „Unter brausenden Hochrufen wurde das ‚Kaiserlied‘ angestimmt und
von der Volksmenge entblößten Hauptes gesungen.“56 Die anderen Lieder wurden
dagegen weitgehend von den Studierenden, Sängern und Schauspielern gesungen.
Diese quellengedeckte Einschränkung der Sängerschaft schmälert aber nicht die
Bedeutung dieser Lieder. Bezüglich der Liederauswahl griff man auf traditionelle
Stücke inklusive ihrer addizierten Zielrichtung zurück: die Kaiserhymne (für Dy-
nastie, für Deutschland), das „Prinz-Eugen-Lied“ (gegen Serbien), der „Radetzky-
marsch“ (für Sieg, später auch gegen Italien) und die „Wacht am Rhein“ (gegen
Frankreich). An den Straßenumzügen erkennt man meiner Einschätzung nach,
dass das bürgerliche Milieu mehr als je zuvor die Straße als politisches Forum und
Einsatzort akzeptierte und okkupierte.57 Zuvor war das politische Agieren auf der
Straße mehr negativ als positiv konnotiert. Sieht man von den Fronleichnamspro-
zessionen, an denen sich der Grazer Gemeinderat als Körperschaft seit 1885 nicht
mehr beteiligte, dem Gründungsaufmarsch des „Katholisch-konservativen Bauer-
vereins für die Mittel- und Obersteiermark“ in Graz (1899), dem (protesthaften)
„Bauernsturm“ auf die Universität Graz (1908), den Festen (Sängerfeste, Sedanfei-
ern), dem Symbol- und Denkmalwettlauf oder etwaigen akademischen Aufmär-
schen und Stiftungsfesten58 ab, so war die Straße als Ort der politischen Interessen-
artikulation von bürgerlicher Seite prinzipiell eher negativ als positiv besetzt.
Schließlich handelte es sich hierbei primär um ein aus ihrer Sicht nicht nachah-
menswertes Instrumentarium der (organisierten) Sozialdemokratie. Die abendli-
chen Menschenansammlungen in der Innenstadt und die tagsüber anzutreffenden
Menschen auf den Bahnhöfen veränderten gewissermaßen die Einstellung der
bürgerlichen Presse zu kollektiven Straßenartikulationen im Allgemeinen. Nach
dem Ersten Weltkrieg stand (nicht nur) in Graz die Legitimität kollektiver Poli-
tikaktionen auf der Straße völlig außer Frage.59 Neben der offenkundig positiven
über die jeweilige Spielordnung vgl. des Weiteren den Lexikonartikel „Glockenspielplatz“ in:
Reismann/Mittermüller (2003), 156.
56 Begeisterte patriotische Kundgebungen, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Sonderausgabe), 3.
57 Vgl. dazu auch: Baumeister (2005), 35.
58 Zu diesen Lokalbeispielen: Moll (2006b), 423; Marauschek (1998), 28.
59 Ich denke hier an die „Heimwehren“ und an den „Republikanischen Schutzbund“.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453