Seite - 150 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof150
Sie schien unheimlich und übermächtig zu sein. Im Grunde genommen strömte
die sich bewegende „Masse“ – vom bürgerlichen Standpunkt ausgesehen – eine
unkontrollierbare, zerstörerische Kraft aus. Diese Angst vor der anonymen und
unorganisierten „Masse“ verspürte man selbstverständlich nicht bei den eigenen
Umzügen des Bürgertums. Vielmehr vernahm man sie bei den Demonstrationen
der linkspolitischen Milieus. Ferner hatte man Angst vor der als „aufrührerisch“
geltenden „Masse“ von Arbeitslosen.66 Die „patriotischen“ Straßenumzüge von
Ende Juli änderten nun die bürgerliche Meinung hinsichtlich jenen „Massen“,
die der unorganisierten „Volksseele“ folgend würden. So urteilten die bürgerli-
chen Redaktionen schlagartig wohlwollend über die (sich bewegenden) „große[n]
Menschenmassen“.67 Floskeln wie „massenhafter Bewegung“68 wurden nun mehr-
mals gedruckt. Ebenso positiv beurteilte man die „Massenwanderung“69 vieler
Grazer und Grazerinnen zum k. k. Zivilinterniertenlager (am) Thalerhof.70 Der
Arbeiterwille schenkte im Gegensatz zur bürgerlichen Presse den „patriotischen“
Straßenumzügen von 1914 nur wenig Beachtung. Er zog auch nicht den Begriff
„Masse“ zur Beschreibung dieser Alltagsmomente (Gelegenheitsstrukturen) he-
ran. In den meisten Fällen reichten seine Zeilen nicht über eine Randnotiz oder
einen Kurzartikel hinaus. Dabei unterschied der Arbeiterwille konträr zur bür-
gerlichen Presse konsequent zwischen dem (seiner Ansicht nach weit verbreite-
ten) Moment der Neugier und dem (seiner Ansicht nach quantitativ gering aus-
fallenden) kriegschauvinistischen Moment. Während die Legitimität des ersten
Moments für den Arbeiterwillen außer Frage stand, kritisierte er jedwede kriegs-
chauvinistische Straßenartikulation zur Gänze: „Nicht die sind die wahren Patri-
oten, die blindlings und ohne Überlegung zum Krieg hetzen, nicht das Schreien
auf der Straße entscheidet, sondern die Entschlossenheit, solange noch Hoffnung
ist, für den Frieden zu kämpfen, dann aber seinen Mann zu [... stehen], wenn die
Würfel gefallen sind.“71 Dass seine unverhohlene Kritik am „Hurrapatriotismus“
neben pathetisch-martialisch formulierten Artikeln stand, wird im Laufe der vor-
liegenden Arbeit weiter ausgeführt. An den „patriotischen“ Straßenumzügen nah-
men gemäß den bürgerlichen Zeitungen meistens so an die tausend („Tausende“)
Menschen teil. Der Arbeiterwille sprach bezüglich der Straßenumzüge weitgehend
66 Siehe auch das Kapitel: Arbeitslosigkeit.
67 Neuerliche patriotische Kundgebungen, in: Tagespost, 28.7.1914, [ohne Seitenangabe].
68 Der gestrige Tag, in: Tagespost, 28.7.1914, [ohne Seitenangabe].
69 Die Gefangenen am Thalerhof, in: Grazer Volksblatt, 7.9.1914 (18-Uhr-Ausgabe), 2.
70 Siehe das Kapitel: Erste „Soldatenerzählungen“.
71 Patriotismus, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453