Seite - 238 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof238
zwölfjähriges Mädchen handliche Bomben auf die k.
u.
k.
Armee geworfen habe.548
Zudem bestätigten die „Soldatenerzählungen“ den seit Tagen kolportierten Topos
einer schlecht schießenden russischen Armee. Einer anderen „Soldatenerzählung“
zufolge seien die Kosaken feige und die serbische Bevölkerung falsch und hinter-
listig. So hieß es von einem Verwundeten: „Ich habe nie an einem von Väterchens
Lieblingssoldaten Tapferkeit gesehen.“549 Im Gegensatz dazu attestierten die ano-
nym zu Wort kommenden Soldaten der russischen Artillerie eine „verdammt
gut[e]“ Schlagkraft, da es sich um „guate Gschütz, alls ‚englische‘ Kanonen“ hand-
le.550 Ähnliches teilte auch ein anderer Soldat der Presse mit: „Die russische Infan-
terie sei feig und schieße schlecht, was von ihrer Artillerie, die wohl übermächtig
sei, nicht behauptet werden könne.“551 Artikel wie diese spiegelten nicht nur ver-
klauselt langjährige militärische Abstimmungen zwischen Russland und Großbri-
tannien/Frankreich wider (= Form der publitzistischen Kriegslegitimierung/
Feinddiffamierung), sondern sie sprachen auch der russischen Artillerie eine
enorme Schlagkraft zu. Durch diese Artikel wurden daher einerseits auf subtile
Weise Kriegslegitimationen unter die Leute gebracht, andererseits wurden so auch
„militärische“ Zugeständnisse und Eingeständnisse gemacht, die nicht selten den
tatsächlichen Erfahrungen der Soldaten entsprachen.552 Die in der bürgerlichen
Presse veröffentlichten „Soldatenerzählungen“ standen manchmal in einem schar-
fen Kontrast zu den kolportierten Kriegsgräueln der russischen Armee. Markant
illustriert sich dies an jenen Textstellen, in denen die k. u. k. Soldaten berichteten,
dass „die verwundeten österreichischen Soldaten am Schlachtfelde vom russischen
Roten Kreuz und den Sanitätssoldaten verbunden“ wurden.553 Neben diesen Arti-
keln, die sozusagen der russischen Armee eine geringfügige Humanität addizier-
ten, finden sich auch Berichte, in denen zu lesen war, dass die verwundeten oder
schwerkranken k. u. k. Soldaten „von den Russen auf Stroh gelegt und lebend ver-
brannt werden“.554 Stellungnahmen wie diese intensivierten verständlicherweise
die Frage nach dem „richtigen“ Umgang mit den Kriegsgefangenen und Zivilinter-
nierten. Die Presse musste diesbezüglich jene kursierenden Gerüchte entkräften,
548 Ebd.
549 Ein Besuch im Grazer Garnisonsspital, in: Grazer Tagblatt, 8.9.1914, 5.
550 Bei den Verwundeten, in: Arbeiterwille, 5.9.1914, 3.
551 Tiroler, Kärntner und Steirer im Felde und was ihnen fehlt, in: Grazer Tagblatt, 26.9.1914
(2. Morgenausgabe), 3.
552 Vgl. dazu: Schmitz (2013).
553 Österreichische und russische Soldaten im Leiden friedlich vereint, in: Grazer Volksblatt,
6.9.1914, 5. Vgl. auch: Ein aufsehenerregender Verwundetentransport, in: Grazer Tagblatt,
6.9.1914, 24.
554 Transport von russophilen Verrätern, in: Grazer Volksblatt, 5.9.1914, 5.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453