Seite - 288 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen288
nachkamen.216 Der Mittags-Zeitung zufolge liefen daher bei den Behörden „stän-
dig Beschwerden“ über die Großhändler und Großproduzenten ein, da diese „die
gegenwärtig prekäre wirtschaftliche Lage“ ausnützen würden.217 Das Scheinargu-
ment, dass „gerade die gehäuften Vorankäufe des Publikums eine Steigerung der
Lebensmittelpreise zur Folge haben, weil die Preise mit der gesteigerten Nachfrage
wachsen“218 würden, fand sich nur einige Male in den Zeitungen. Diese Erklärung
lieferte auch der Allgemeine Grazer Spar- und Konsumverein.219 In einer seiner
Stellungnahmen stand zu lesen: „Soweit es sich um Lebensmittel handelt, müssen
wir uns aber gestehen, daß durch die übergroße Ängstlichkeit und Kopflosigkeit
die Teuerung durch Konsumenten teils selbst verschuldet“ sei.220 An der Praxis des
privaten Hamsterns (innerhalb des Stadtgebietes) missbilligte die Presse, dass ihr
keine essentiell-materielle Versorgungsnot zugrunde liege und sie somit widersin-
nig sei. Überall in den Zeitungen und Zeitschriften forderte man daher die Bevöl-
kerung dazu auf, die Hamsterkäufe zu unterlassen221, die sogenannten „Lebensmit-
telwucherer“ beim Marktkommissariat (im Amtshaus) zu melden und die hohen
Preise schlichtweg nicht zu bezahlen. Der erste im Krieg ausgesprochene Boykott
richtete sich daher nicht gegen die Pariser Mode (denn diesen sprach man erst ab
den Augusttagen aus), sondern gegen Teile der (einheimischen) Grazer Kauf-
mannschaft.222 Die Kaufboykotte gegen die „preistreibenden“ Teile der Kaufmann-
schaft verdeutlichen zum einen den Ernst der Lage und zum anderen, dass es kein
gesamtgesellschaftliches Erlebnis zu Kriegsbeginn gab. Schließlich operierte die
Presse seit den Preissteigerungen täglich gegen die lokalen „Lebensmittelwuche-
rer“. „Der Wucher blüht!“223 hieß es in einer Aussendung des Konsumvereins.
Selbstredend waren in allen kriegführenden Staaten die Feindfiguren namens
216 Maximaltarife der Lebensmittel, in: Arbeiterwille, 6.8.1914, 3.
217 Preissteigerungen, in: Grazer Mittags-Zeitung, 7.10.1914, 3.
218 Keine überstürzten Einkäufe von Lebensmitteln, in: Arbeiterwille, 29.7.1914, 2.
219 Zur Geschichte der österreichischen Konsumgenossenschaften im Ersten Weltkrieg vgl. vor al-
lem: Jagschitz (2011), 35–41; Brazda (2006), 79–84; Seibert (1978), 57–65.
220 Der Grazer Konsumverein an seine Mitglieder, in: Arbeiterwille, 15.8.1914, 8.
221 Die Hamsterfahrten aufs Land waren davon ausgenommen.
222 Siehe das Kapitel: Modeboykott. Das Boykottieren war stets ein probates Mittel zur Durchsetzung
diverser sozialer, nationaler und/oder konfessioneller Interessen. So trat z. B. der Arbeiterwille
im Jahr 1907 für einen Kaufboykott gegen jene Läden und Firmen ein, die sich nicht an die von
ihm geforderte Sieben-Uhr-Ladensperre hielten. 1908 trat derselbe für einen (letztendlich vier
Monate andauernden) Bierboykott ein. In der „Untersteiermark“ galt der „slowenische“ Kauf-
boykott gegen „deutsche“ Kaufleute als Strategie zur Durchsetzung politischer Forderungen (und
vice versa). Vgl. Kleinschuster (1978), 102–106; Moll (2007a), 529.
223 Der Grazer Konsumverein an seine Mitglieder, in: Arbeiterwille, 15.8.1914, 8.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453