Seite - 322 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 322 -
Text der Seite - 322 -
| Alltag und
Einheitsprüfungen322
Erde“ begraben werden konnte. Und zweitens wusste keiner, wie der „Russe“ oder
der „Serbe“ tatsächlich mit den Leichen bzw. mit den Gräbern umgehen würde.
Es wurde bereits erwähnt, dass viele Grazerinnen und Grazer Anfang September
zum Hauptbahnhof strömten, weil sie von den zurückkommenden Verwundeten
wissen wollten, was sich da „draußen“ tatsächlich abspiele. Aber die Frage, wer
sich um die Toten fernab der „Heimat“ kümmere, blieb – in einer Zeit, in der es
zwar das Rote und das Silberne Kreuz382, aber noch kein Schwarzes Kreuz gab
– weitgehend unbeantwortet.383 Die Presse versuchte, derartige Ungewissheiten
und Ängste zu mildern.384 Nicht selten schrieben die Zeitungen, dass man in Graz
wie in der gesamten Monarchie die Gräber der gegnerischen Soldaten würdevoll
gestalten und pflegen würde: „Auch das Grab des serbischen Offiziers, welcher
kürzlich in der [Grazer] Landwehrkaserne Selbstmord verübte, vergaß man nicht
[am Grazer Zentralfriedhof] zu schmücken.“385 Sätze wie diese tauchten immer
wieder in der Presse auf und sie dienten aus meiner Sicht nur in manchen Fällen
als (verklärender) Ausweis der eigenen „ritterlichen“ Kriegsführung, um sich so
besser von der „barbarischen“ Kriegsführung der Feindstaaten abgrenzen zu kön-
nen. Meiner Interpretation nach scheint in den meisten betreffenden Artikeln die
Hoffnung durch, dass die russische oder die serbische Armee würdevoll mit den
Leichen und Gräbern der k. u. k. Armee umgehen würde. Das setzte natürlich
voraus, dass man auch in Österreich-Ungarn sorgsam mit den Soldatengräbern
oder mit der letzten „Ölung“386 von fremden Soldaten umging. Dem war aber al-
lem Anschein nicht überall so. Missbilligende Worte fand das radikal deutschna-
tionale Tagblatt zum Beispiel darüber, dass man auf einem katholischen Friedhof
in Bozen (Bolzano) einen muslimischen Soldaten der k. u. k. Armee nicht neben
die anderen Soldatengräber beisetzte, sondern etwas abseits davon: „Wir [das Tag-
blatt] finden keine passenden Worte, um eine derartige Pietätlosigkeit einem fürs
Vaterland gefallenen Helden gegenüber näher zu begreifen.“387 In einem anderen
Fall, in Bruneck (Brunico), wurde ein Begräbnis eines protestantischen k.
u.
k.
Sol-
daten verschoben, weil sich kurz zuvor herausstellte, dass der Sarg in der „Selbst-
mörderabteilung“ beigesetzt werden müsse, weil er nicht in der katholischen Zone
382 Die k. k. Gesellschaft vom Österreichischen „Silbernen Kreuze“ wandte sich der Fürsorge für die
heimkehrenden Soldaten bzw. die Kriegsinvaliden zu, siehe das Kapitel: Diebstahl und Betrug.
383 Das Österreichische Schwarze Kreuz wurde erst 1919 gegründet.
384 Vgl. z. B. Ein steirischer Held in Ungarn beerdigt, in: Grazer Volksblatt, 24.9.1914 (12-Uhr-Aus-
gabe), 3.
385 Die Gräber der Gefallenen, in: Grazer Mittags-Zeitung, 2.11.1914, 2.
386 Heutzutage spricht man von einer „Krankensalbung“.
387 Sind im Tode nicht alle Helden gleich?, in: Grazer Tagblatt, 20.11.1914 (2. Morgenausgabe), 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453