Seite - 341 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 341 -
Text der Seite - 341 -
Demonstrationen vor Geschäften | 341
monstration lieferte die Presse nicht. Das Tagblatt betonte aber, dass sich die Leute
hauptsächlich über die Gewerbeschilder des Schneidermeisters entrüsteten: „Sie
stießen Pfuirufe aus und verlangten stürmisch die Entfernung der beiden Firmen-
tafeln.“ Die Situation wurde mit der Zeit immer kritischer und als letztendlich „die
Demonstration bedenklich zu werden drohte, entschloß sich [... der Schneider-
meister], die Tafeln durch einen Burschen entfernen zu lassen.“ Dieser brachte die
Tafeln hinein ins Geschäft und erst „dann verlief sich die Menge allmählich.“ Am
nächsten Tag wurde der Schneidermeister Sava Lazic ins Landwehrdivisionsgericht
überstellt.481 Sein Geschäft und seine Wohnung wurden behördlich gesperrt. Seine
Frau musste mit den Kindern die Wohnung verlassen. Gab sich die Demonstrati-
onsmenge in der Radetzkystraße mit der „Sprachbereinigung“ zufrieden, verlief
die (zweite) viertägige Demonstration vor dem Laden des Selchers und Delikates-
senhändlers Milan Golubovitz am Färberplatz dramatischer.482 Seit dem Vormittag
des 27. Juli wurde Golubovitz durch mehrere Demonstrationen „vier Tage hinter-
einander in Schrecken und Angst versetzt.“483 Den Anlass dafür bot ein der Presse
zufolge alkoholisierter Dienstmann, der vor dem Laden des Selchers proklamierte,
dass Golubovitz ein Serbe sei. Folgt man den Schätzungen der Presse, beteilig-
ten sich an der viertägigen Demonstration im Durchschnitt an die 500 Menschen.
Dem Arbeiterwillen zufolge waren es in erster Linie Soldaten, Marktfrauen sowie
einige Bekannte des Selchers, die vor dem Laden demonstrierten und das Geschäft
mit Steinen bewarfen.484 Golubovitz ging daraufhin zur Polizei, wo er bestätigen
konnte, dass er ungarischer Staatsbürger war. Nichtsdestotrotz musste die Grazer
Sicherheitswache weiterhin täglich vor seinem Laden erscheinen, um die „antis-
lawischen“ Demonstrationen aufzulösen. Dabei hatte sie stets Erfolg, wenngleich
nur bis zum nächsten Tag. In der Nacht auf den 28.
Juli wurde die gläserne Firmen-
tafel des Selchers zerschlagen. Daraufhin stellte der Selcher ein Plakattäfelchen in
seinem Schaufenster auf. Auf diesem stand schwarz auf weiß: „Ich bin kein Serbe,
muß wie alle in den Krieg.“485 Ebenso dementierte er noch am gleichen Tag – am
Tag der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung – im Volksblatt die über ihn
gestreuten Gerüchte. In dieser Anzeige stand Folgendes:
481 Vgl. z. B. Verhaftung eines Gewerbsmannes, in: Grazer Volksblatt, 29.7.1914, 5.
482 Eine verfehlte Serbendemonstration, in: Grazer Tagblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 6; Eine neu-
erliche Demonstration am Färberplatz, in: Grazer Volksblatt, 30.7.1914 (Abendausgabe), 3.
483 Blinde Hetze gegen angebliche Serbenfreunde, in: Kleine Zeitung, 19.8.1914, 6.
484 Ruhig Blut bewahren!, in: Arbeiterwille, 30.7.1914 (Abendausgabe), 2; Gemeinheiten unter der
Maske des Patriotismus, in: Arbeiterwille, 15.8.1914, 4.
485 Eine zertrümmerte Firmatafel, in: Grazer Tagblatt, 28.7.1914 (Abendausgabe), 4.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453