Seite - 353 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Über die „Sprachbereinigung“ | 353
gab, wo man vor Geschäften demonstrierte, weil man – trotz Gegendarstellungen
der Presse – der Meinung war, dass der Ladenbesitzer „österreichfeindlich“ sei.
Die Angst vor der Demolierung des eigenen Lokals oder Ladens konnte daher
ausschlaggebend für die Namensänderung sein. Immerhin herrschte Druck auf
„nichtdeutsche“ oder zumindest „nicht ‚deutsch‘ agierende“ Gewerbetreibende
(„Germanisierungsdruck“). In einem der Appelle hieß es ausdrücklich: „[F]ort mit
allen Hotels und Restaurants – wir haben die schönen deutschen Wörter Gasthaus
und Kneipe!“533 Mehrmals sah sich etwa die berühmte Abadie-Papiergesellschaft
dazu gezwungen, den Zigarettenhülsen- und Zigarettenpapiermarkennamen
„Marseillaise“ mittels halbseitiger Zeitungsannoncen zu rechtfertigen. In dieser
(mehrmals zu findenden) Annonce widersetzte sich die Abadie-Papiergesellschaft
dem Gerücht, dass sie eine französische Firma sei und französisches Papier ver-
kaufen würde.534 Schließlich sei man ein österreichisch-ungarisches Unternehmen,
das seit Kriegsausbruch kein Papier mehr aus Frankreich beziehe. Der Arbeiter-
wille, der mit der Abadie-Papiergesellschaft eine Vereinbarung535 hatte und die Ge-
sellschaft massiv bewarb, unterstützte ihre Klarstellungsbemühungen. Die Papier-
gesellschaft sei, wie man es in den Annoncen nachlesen könne, „eine ausschließlich
österreichisch-ungarische Gesellschaft“ und ihre Belegschaft bestehe ebenfalls nur
aus „österreichisch-ungarischen Staatsbürgern“.536 Obendrein spendete die Papier-
gesellschaft an das Rote Kreuz.537 Zudem lässt sich für Graz ein Vorfall greifen,
wo sich nachts eine Gruppe – das Tagblatt sprach von „Heinzelmännchen“538 – zu
einem Gasthaus in der Sackstraße schlich und dessen französisch anmutendes Na-
mensschild „eindeutschte“. Am nächsten Morgen prangte dann „vor dem altehr-
würdigen ‚Bierjakl‘ [... anstatt der] fremdländische[n] Bezeichnung ‚Restauration‘
[...], das ehrlich deutsche Wort ‚Gastwirtschaft‘“.539 Das Tagblatt amüsierte sich
533 Der Franktireur, in: Grazer Tagblatt, 24.9.1914 (Abendausgabe), 4.
534 An die Raucher Österreich-Ungarns! [Annonce], in: Arbeiterwille, 6.9.1914, 12.
535 Die Abadie-Papiergesellschaft (Wien und Nyitra) hatte einen Nebensitz in der Grazer Annen-
straße. Der (veröffentlichten) Vereinbarung zufolge ging die Umsatzprovision aus den Verkäu-
fen der Abadie-Papiergesellschaft an den (sozialdemokratischen) Verein „Arbeiterheim“. Immer
wieder hieß es im Arbeiterwillen sowie in den Annoncen der Abadie-Papiergesellschaft: „Par-
teigenossen! Verlangt in allen Tabaktrafiken nur Zigarettenhülsen und Zigarettenpapier mit der
Schutzmarke ‚Marseillaise‘.“ Diese Aufforderung setzte sich im ersten Kriegsjahr fort. Vgl. für den
Juli 1914: Zigarettenpapier und Zigarettenhülsen „Marseillaise“!, in: Arbeiterwille, 24.7.1914, 12.
536 Arbeiter, Parteigenossen!, in: Arbeiterwille, 23.9.1914 (Abendausgabe), 4; Arbeiter, Parteigenos-
sen!, in: Arbeiterwille, 29.10.1914, 6.
537 Abadie-Papier-Gesellschaft, in: Arbeiterwille, 6.9.1914, 10.
538 Heinzelmännchen gegen die Fremdwörterei, in: Grazer Tagblatt, 17.10.1914 (Abendausgabe), 2.
539 Ebd.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453