Seite - 360 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Einheitsprüfungen360
von Ängsten – vor allem von Journalisten, die „zu Hause“ im „Warmen/Trockenen“
blieben – als „unmännlich“ bzw. als „nervös“ erachtet wurde. Sehr wohl entnimmt
man den entsprechenden Artikeln jedoch einige unterschwellige Argumentations-
techniken, die die Erhaltung der als „natürlich“ erachteten Rollenverteilung zum
Ziel hatten. Meistens verpackte die Presse ihre Angst in Geschichten, in denen
Frauen für ihr Verhalten (im Nachhinein) entweder kritisiert oder gelobt wurden.
Heute lässt sich kaum mehr sagen, welche dieser Geschichten real und welche fin-
giert waren. In den folgenden Beispielen trifft aus meiner Sicht eher Letzteres zu,
woran man – sofern man dieser Annahme folgt – erkennt, dass die Redaktionen
auch mittels erfundener Geschichten dazu beitrugen, dass die traditionelle Ge-
schlechterrollenverteilung (letztendlich) aufrechterhalten wurde. In einem Aufsatz
mit dem vielsagenden Titel „Dämon Weib“ erzählte die deutschnationale Mittags-
Zeitung beispielsweise von einem (hochwahrscheinlich erfundenen) Fall, wo ein
deutscher Soldat und liebevoller Vater in Belgien von seiner belgischen Frau, die
einen „Franktireur“ als Liebhaber hatte, erschossen wurde.576 In einer anderen und
offenbar ebenso fingierten Geschichte aus dem Jahr 1915 kam ein Soldat „aus“
dem Krieg zurück. Zuhause angekommen, fragte er die allein angetroffenen Kin-
der nach dem Verbleib ihrer Mutter.577 Diese antworteten, sie sei mit dem „neuen
Vater in die Stadt ins Gasthaus“ gegangen. Der Vater beschenkte und küsste die
Kinder und sagte: „Sagt’s nur der Mutter, sie soll mit dem neuen Vater nur weiter-
wirtschaften“. Dann machte er sich wieder auf den Weg. In einem ganz anderen
Licht erschienen diejenigen Frauen, die auf ihren jeweiligen Mann warteten.
Dieser Aspekt wurde beispielsweise in der Geschichte mit dem Titel „Frauen-
treue“ vorgebracht.578 In dieser redaktionsfremden Erzählung erfuhr eine junge
Berlinerin auf schriftlichem Wege, dass ihr Bräutigam im Krieg ein Bein und einen
Arm verloren hatte. Aus diesem Grund gab ihr der Mann das „Wort“ (Ehegelöb-
nis), das sie ihm – als er noch unversehrt war – gegeben habe, zurück. Die junge
Frau ging daraufhin ins Lazarett und setzte dort die sofortige Hochzeit durch.
Alle diese „ordnungsherstellenden“ Geschichten haben gemeinsam, dass sie sich
primär um junge Frauen drehten, die sich entweder korrekt oder inkorrekt (zeit-
genössisch: „unsittlich“, „unerhört“, „unpatritotisch“, „unsolidarisch“) verhielten.
Publizistisch kompakt lässt sich diese Sehnsucht nach der Beibehaltung der tradi-
tionellen Rollenverteilung in Peter Roseggers Kolumne „Heimgärtners Tagebuch“
greifen. Zwei Beispiele:
576 Dämon Weib, in: Grazer Mittags-Zeitung, 13.11.1914, 2.
577 Der neue Vater, in: Grazer Mittags-Zeitung, 12.7.1915, 3.
578 Frauentreue, in: Grazer Mittags-Zeitung, 23.12.1914, 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453