Seite - 366 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 366 -
Text der Seite - 366 -
| Alltag und
Einheitsprüfungen366
es auf der Strecke zu kleineren Auseinandersetzungen. Diese hatten eine enorme
Nachbesprechung in den Zeitungen zur Folge. Dass der Arbeiterwille am 21. Sep-
tember konfisziert wurde, verschärfte die an und für sich schon angespannte Lage.
Schuld an den Handgreiflichkeiten hatte laut Arbeiterwille das Bürgertum. Die
bürgerlichen Zeitungen schoben die Schuld der Sozialdemokratie zu. Ferner
spielte der Arbeiterwille in seiner Berichterstattung hinsichtlich des „Stiefel-
wichspatriotismus“604 die Straßenvorfälle herunter, während die bürgerliche Presse
die Auseinandersetzungen aufbauschte.605 Obendrein sahen sich die bürgerlichen
Zeitungen in ihrer Annahme bestätigt, sich bewegende „Massen“ würden eine
„Unordnung“ auf der Straße schaffen. Die Größenangaben in den Zeitungen vari-
ierten stark. Die Untermauerung der eigenen Politik mittels untertriebener oder
übertriebener Angaben von Teilnehmerzahlen praktizierte man auch damals. Die
höchste von mir gefundene bürgerliche Schätzung stammte vom Tagblatt. Es be-
maß die Zahl auf ungefähr 3.000 Sozialdemokraten.606 Dem Arbeiterwillen zufolge
nahmen (mindestens) 6.000 Personen an der Demonstration teil.607 An der Art
und Weise, wie der Arbeiterwille über das Militär in den Septembertagen (1903)
schrieb, erkennt man sehr gut seine durchwegs ambivalente Haltung zur k.
u.
k.
Ar-
mee. Wenngleich er stets pazifistische Grundstatements artikulierte, kritisierte er
nie die k. u. k. Armee zur Gänze. Missbilligt wurden von ihm lediglich Einzelas-
pekte, beispielsweise die Form, wie die Armee und die Marine in mancherlei Hin-
sicht strukturiert waren bzw. wie sie finanziert und geleitet wurden. Ebenso pran-
gerte er die Soldatenmisshandlungen an.608 Aber keiner dieser Kritikpunkte führte
zu einer Systemfrage, zumal die Sozialdemokratie vielen Gesetzesvorlagen, die
unverkennbar die Militarisierung der Gesellschaft fortsetzten, zustimmte. Am
deutlichsten drückte sich dies in ihrer Zustimmung zum Kriegsleistungsgesetz
(1912) aus.609 Die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der Zivilbevölke-
rung sowie die in den Zeitungen und im cisleithanischen Abgeordnetenhaus regel-
mäßig kritisierten Soldatenmisshandlungen, Säbelaffären und Militärausgaben
zeigen, dass die k.
u.
k.
Armee (inkl. ihrer Normen, Interessen und Praktiken) auch
von vielen Menschen abgelehnt wurde.610 Programmatisch zusammengefasst wur-
604 Kritische Betrachtungen, in: Arbeiterwille, 22.9.1903, 1.
605 Die Demonstration der Sozialdemokraten, in: Grazer Tagblatt, 21.9.1903 (Abendausgabe), 2.
606 Ebd.
607 Die sonntägige Demonstration, in: Arbeiterwille, 22.9.1903, 3.
608 Für die Vorkriegszeit vgl. Kritische Betrachtungen, in: Arbeiterwille, 22.9.1903, 1. Für die Kriegs-
zeit vgl. Strenge Ahndung von Soldatenmißhandlungen, in: Arbeiterwille, 14.2.1915, 10.
609 Das Kriegsleistungsgesetz galt anfänglich nur für Männer (ab 1917 galt es auch für Frauen).
610 Hämmerle (2005), 118 und (2007), 223.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453