Seite - 370 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 370 -
Text der Seite - 370 -
| Alltag und
Einheitsprüfungen370
sierten in den Tagen darauf ihren Erstbericht, indem sie die genaue Adresse, wo
sich der Vorfall ereignet hatte, veröffentlichten.621
Im ersten Kriegsjahr kam es zu unzähligen und situativ entstandenen Schläge-
reien. Zivilisten, Männer wie Frauen, schlugen sich mit Zivilisten. Zivilisten schlu-
gen sich mit Soldaten. Soldaten schlugen sich mit Soldaten. Ferner berichtete die
Presse, dass Soldaten mit den (zivilen) Bürgerwehren aneinandergerieten.622 An-
fang August wurde beispielsweise in der Annenstraße ein Reservekorporal mit sei-
ner Frau von einem Herrn angerempelt und beschimpft.623 Nach Wortattacken von
beiden Seiten wurde der Mann, der sich gegen den Reservekorporal stellte, von
mehreren Zivilisten bewusstlos geschlagen. In einem anderen Fall „stänkerte“624
ein Gemüsehändler zu später Stunde mehrere Soldaten vor einem Gasthaus an,
worauf diese ihn „heftig“ zusammenschlugen. Mitte August widersetzte sich ein
Friseur in der Annenstraße seiner Verhaftung (aufgrund kleinerer Strafdelikte),
indem er sich auf den Boden warf und dabei vorbeiziehende Soldaten unentwegt
beschimpfte.625 Andere Vorfälle endeten damit, dass der Soldat sein Bajonett oder
seinen Säbel zog und zustieß. Einem Artikel zufolge mokierte sich ein Hilfsarbeiter
über einen Soldaten so lange, bis dieser sein Bajonett zog und auf den Hilfsarbei-
ter losging.626 Letztendlich überwältigten und verhafteten vorbeiziehende Militärs
den Soldaten. An einem anderen Tag beschimpfte ein Soldat in einem Gasthaus
einige Mitglieder der Grazer Freiwilligen Feuerwehr.627 Auf der Wache setzte er
offenbar „sein exzessives Benehmen fort“, da er dem Artikel zufolge mit seinem
Säbel „[herum]fuchtelte“.628 Anfang August stieß ein Reservist einem Tagelöhner
gar das Bajonett in den Bauch, sodass diesem „die Gedärme heraustraten.“629 Ob
die Zeitung hier übertrieb oder nicht, ist für mich nebensächlich. Ich möchte bloß
darauf hinweisen, dass die Grazer Zeitungen fast täglich derartige Artikel brach-
ten. Anfang September wurde beispielsweise einem Tagelöhner „von unbekannten
621 Eine nächtliche Szene, in: Grazer Tagblatt, 3.9.1914, 3: „Man ersucht uns, mitzuteilen, daß der
im gestrigen Abendblatte unter dieser Spitzmarke geschilderte Vorfall sich in und vor dem Hause
Granatengasse 1 abgespielt hat.“ Vgl. parallel: Eine nächtliche Szene, in: Grazer Volksblatt,
4.9.1914 [Morgenausgabe, Nr. 422], 4.
622 Siehe das Kapitel: Neue Wachposten.
623 Ein Anrempler verprügelt, in: Grazer Volksblatt, 5.8.1914 (Abendausgabe), 4.
624 Von Reservisten geprügelt, in: Arbeiterwille, 3.8.1914 (Abendausgabe), 4.
625 Eine schwierige Arretierung, in: Arbeiterwille, 19.8.1914, 4.
626 Ein rabiater Reservist, in: Arbeiterwille, 31.8.1914 (Abendausgabe), 4.
627 Folgen des Alkohols, in: Arbeiterwille, 17.9.1914 (Abendausgabe), 4.
628 Ebd.
629 Kleine Chronik, in: Grazer Volksblatt, 4.8.1914, 6.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453