Seite - 392 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 392 -
Text der Seite - 392 -
| Alltag und
Einheitsprüfungen392
Ersten Weltkriegs nur in Wien und in Graz katholisch-konservative Pfadfinder-
gruppen gab. In der Steiermark dominierten daher die deutschnationalen Pfad-
findergruppen entschieden über die katholischen Pfadfinder. Im März 1914 rief
man beispielsweise den Steirischen Pfadfinderbund ins Leben, der wie jener in
Böhmen, im „Sudetenland“ und in Vorarlberg betont deutschnational war. Die
Gründung der Pfadfinder kommentierte auch Peter Rosegger. In seiner Kolumne
„Heimgärtners Tagebuch“ sprach er von den Pfadfindern als den „Pioniere[n] der
Wiedergeburt“764 und vermerkte, wie schade es nicht sei, dass die Kinder nach ih-
ren Ausflügen auf die „Scholle“ wieder in die „Stadt“ müssen: „Vielleicht sehen es
auch die nationalen Pfadfinder endlich ein, was den Deutschen in seinem Heimat-
lande noch retten kann: die Scholle. Wer die Scholle hat, der hat das Land.“765 Die
erste deutschnationale Grazer Pfadfindergruppe trug den Namen „Donar“ und
wurde Anfang Juni 1914 gegründet. Aufgrund der klar deutschnationalen Aus-
richtung trat der Steirische Pfadfinderbund nicht (sofort) dem im April 1914 ge-
gründeten und katholisch ausgerichteten Österreichischen Pfadfinderbund (ÖPF)
in Wien bei. Eine Angliederung an den ÖPF erfolgte erst 1915, die als solche bis
1919 bestehen blieb. Das seit 1913 bestehende Grazer Pfadfinderkorps St. Georg
blieb dem Steirischen Pfadfinderbund dagegen fern, schloss sich aber dem katho-
lisch ausgerichteten ÖPF an. Es war katholisch-konservativ ausgerichtet und hatte
(zumindest in den ersten zwei Jahren) seinen Hauptsitz im Alkoholfreien Speise-
haus.
Die Pfadfinder und der Wandervogel verzeichneten konträr zu den Kinder-
freunden, die mehrmals im Arbeiterwillen ihren Teilnehmerschwund beklagten766,
in den ersten Kriegsmonaten einen enormen Mitgliederanstieg.767 Das Werben für
den Korpseintritt erfolgte mittels Presseaufrufen, die entweder von den einzelnen
Gruppenleitungen oder von der Presse selbst ausgingen. In diesen richtete man
sich hauptsächlich an die Eltern, die sowohl ihre Mädchen als auch ihre Buben den
besagten Organisationen anvertrauen sollten.768 Den Appellen verlieh man mitun-
ter Nachdruck, indem man beispielsweise behauptete, dass die Teilhabe der Pfad-
finderkorps an den „patriotischen“ Straßenumzügen „gewiß auch ein Beweis der
kaiser- und staatstreuen Gesinnung der Eltern dieser“769 Kinder und Jugendlichen
sei. Dieses Druckausüben auf die Eltern war zur damaligen Zeit keine Seltenheit,
764 Heimgärtners Tagebuch, in: Heimgarten (1914), Nr. 8, 613.
765 Ebd.
766 Leoben, in: Arbeiterwille, 25.10.1914, 9.
767 Das Folgende entnahm ich wie gesagt: Seewann (1971); Fux (1970).
768 Aufruf an die Eltern, in: Grazer Montags-Zeitung, 17.8.1914, [ohne Seitenangabe].
769 Eine patriotische Kundgebung „Jung Österreichs“, in: Grazer Volksblatt, 20.8.1914, 4.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453