Seite - 395 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Pfadfinder und Wandervogel | 395
terrollenverteilung erzogen bzw. vom Vater „gezüchtigt“ werden mussten. Gewalt
von Seiten der Kinder und Jugendlichen wurde nicht geduldet. Ein Artikel aus
den Junitagen des Jahrs 1914 kann hier als Beispiel herangezogen werden. Unter
der Schlagzeile „Schulknaben als Vogelnestzerstörer“774 berichtete (nicht nur) das
Tagblatt von mehreren Schulkindern, die mutwillig ein Vogelnest ausnahmen und
den Zeisigen sämtliche Extremitäten abschnitten. Einer der Zeisige wurde allem
Anschein nach sogar lebendig begraben. Die Empörung über derartige Tierquä-
lereien war groß. Um welche Kinder es sich hier genau handelte, verschwieg aber
das Tagblatt. Die einmal pro Woche erscheinende Grazer Vorortezeitung druckte
ebenfalls den anscheinend auf einer Presseaussendung beruhenden Artikel. Kon-
trär zum Tagblatt publizierte die Vorortezeitung sogar die Wohnadressen der be-
sagten Kinder.775 Tierquälereien wurden von der Presse aufs Schärfste verurteilt.
Druckwürdig erschienen diese meist sentimental und anklägerisch verfassten
Vorfälle, weil es sich hierbei um einen abscheulichen Ausdruck der „Rohheit in
unserer Jugend“776 handelte. Dieser Umstand musste vom damaligen Standpunkt
her gesehen schnell beendet werden, weswegen die Presse selbstverständlich nicht
davor zurückschreckte, die jeweiligen Namen der tierquälenden Kinder und Ju-
gendlichen zu veröffentlichten. Ebenso wies man nicht selten ihre Wohnadresse
aus. Durch eine derartige Praxis versuchte man nicht nur, Druck auf die Eltern der
skandalisierten Buben und Mädchen auszuüben, sondern gewissermaßen auf alle
Eltern. Alle Eltern, vorzugsweise die Väter, sollten darauf achten, dass die Kinder
„anständig“ erzogen werden.
Ganz anders verhielt es sich indes mit den bürgerlichen Kinder- und Jugend-
gruppen. Mit ihrem erhöhten Auftreten und Engagieren breitete sich in den bür-
gerlichen Zeitungen und Zeitschriften mehr und mehr der Topos vom Krieg als
„Erneuerer“ aus. Diese Kinder und Jugendlichen seien uniformiert, diszipliniert
und uneingeschränkt „patriotisch“. Und gemäß dieser Perspektive sah man in den
Pfadfindern und dem Wandervogel ein wirkmächtiges Kampfmittel gegen die
„Vermännlichung“ der Frau bzw. gegen die „Verweiblichung“ des Manns. Die „Ver-
männlichung“ der Frau und deren Pendant war eine zeitgenössische Wahrneh-
mung, die viele Menschen ängstigte. Schließlich führe die „Vermännlichung“ der
Frau zur Schwächung des eigenen Staats. Dass es sich hierbei um eine Angst han-
delte, sprach man in der Grazer Presse nicht aus, zumal Ängste als „unmännlich“
und „nervös“ galten. Vielmehr beanstandete die Presse alles, was die „Vermännli-
774 Schulknaben als Vogelnestzerstörer, in: Grazer Tagblatt, 19.6.1914, 3.
775 Schulknaben als Vogelnestzerstörer, in: Grazer Vorortezeitung, 21.6.1914, 3.
776 Schulknaben als Vogelnestzerstörer, in: Grazer Tagblatt, 19.6.1914, 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453