Seite - 438 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Schlussbetrachtung438
Die Einheitsbrüche/Burgfriedensbrüche (wie sie beispielsweise der „Lebensmit-
telwucherer“ beging) trugen das ihre dazu bei, wenngleich festgehalten werden
muss, dass diese Einheitsbrüche nicht ausschließlich dekonstruktiv bzw. desinteg-
rativ waren. Gesamtgesellschaftlich gesehen wirkten sich die Burgfriedensbrüche
negativ auf die sozialen Bindungen aus. Für die jeweiligen (kleineren) Einheits-
gruppen – wie zum Beispiel die Gruppe, die für die „Sprachbereinigung“ kämpfte
oder für die Gruppe, die gegen die „Zinsgeier“ vorging – traf dies aber nicht zu.
Gerade sie benötigten die Abgrenzung vom Nicht-Erwünschten, um wiederum so
ihre soziale Kohäsion (innerhalb ihrer Einheitsgruppe) festigen zu können. Die
Abgrenzung vom „Nicht-Einheitstauglichem“ führte demnach die jeweilige Ein-
heitsgruppe zusammen. Für andere bedeutete dies aber nichts anderes, als dass sie
(gewaltsam) ausgeschlossen oder zumindest zurückgedrängt wurden.
Die Einheitsbildung blieb daher trotz einzelner Kooperationen und Konsens-
situationen fragmentiert, zumal die Einheitsschlüsse und Einheitsbrüche eben je
nach Betrachtungswinkel sowohl produktiv als auch destruktiv wirken konnten.
Die Bevölkerung transformierte sich daher zu keiner gesamtgesellschaftlichen
„Kriegsgemeinschaft“ und schon gar nicht zu einer „Volksgemeinschaft“, die einer
(!) uniformen „Kriegskultur“ gefolgt wäre.53 Vielmehr überformten und erodier-
ten die Erschwernisse des Kriegs die zivilgesellschaftlichen Bindungen.54 Denn die
durch den Krieg erst entstandenen oder durch diesen verschärften Konfliktlinien
innerhalb der Grazer Gesellschaft beeinträchtigten schwerwiegend und nachhaltig
das soziale Gefüge. Ausschlaggebend hierfür waren eben jene Krisen, Kontrover-
sen, Konkurrenzsituationen und Konflikte im Grazer Alltagsleben, die bereits in
der präventiv zensurierten Presse ausgesprochen und ausgetragen wurden.
Diesbezüglich lassen sich Vergleiche zu Maureen Healys Studie „Vienna and
the Fall of Habsburg Empire“ anstellen. So greift Healy in ihrer Monografie zum
Wiener Kriegsalltag auf das Bild einer „collection of mini-fronts“ zurück.55 Nach
Healy richteten sich diese kleineren Fronten weniger gegen Russland, Frankreich
oder Großbritannien. Vielmehr verliefen sie stattdessen von Kriegsbeginn an
durch den zwischenmenschlichen Alltag. Das Gleiche lässt sich über Graz sagen,
sofern man nicht vergisst, dass auch die Angst vor Russland die Grazer und Gra-
zerinnen „zusammenschweißte“. Dennoch kommt meines Erachtens eine Analyse
des Kriegseinbruchs/Kriegsausbruchs und des Burgfriedens nicht umhin, auch die
vermeintlich weniger wichtig erscheinenden Feinde an der „Heimatfront“ in den
Blick zu nehmen.
53 Zum Hintergrund: Winter/Robert (2007), 473 f.
54 Ziemann (2013), 8.
55 Healy (2007), 1. Ähnlich argumentiert auch: Watson (2004).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453