Seite - 447 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Dass die Presse solche Fälle aufgriff (und vielleicht auch einige Male fingierte),
um so den Krieg oder ein wie auch immer einheitskonformes Handeln konzipie-
ren und legitimieren zu können, stellte keine Ausnahme dar. Die neue und bis dato
ungewohnte Kriegssituation führte dazu, dass man sich eine neue Alltagsbewälti-
gung überlegen musste. Gefordert wurde nicht nur die Feindaufklärung und die
Früherkennung, sondern man musste auch lernen, auf gewisse Dinge zu achten,
um sich selbst – wenngleich ohne Gewähr auf Sicherheit – schützen zu können.
Und das unter erheblichem Aufwand betriebene Erlernen und Einüben dieser
neuen Alltagsqualifikation musste unter enormem Zeitdruck erfolgen. Dabei kam
es weniger darauf an, wo man sich wann aufhielt, sondern primär darauf, wie man
sich in einer konkreten Situation verhielt (besser gesagt: wie man von jemand an-
derem wahrgenommen wurde).
Man konnte schnell und ohne Wissen hierüber als (ein präventiv zu unterbin-
dendes) Risiko, als (ein zu überredendes oder zu überzeugendes) „An-der-Kippe-
zum-Feind-stehendes-Moment“ oder gar als (ein festzunehmender) Feind des
Staats, der „Einheit“ oder diverser Interessen eingestuft werden. Aus der Rück-
schau lässt sich erkennen, dass auf den Straßen in ein und derselben Zivilperson
die klassischen Grenzen zwischen Normgeber, Normanwender und Normadressat
durchaus verschwimmen konnten. Die traditionellen Normgeber und Norman-
wender bestanden zwar – in veränderter Form – weiterhin, aber die neuen Alltags-
situationen der ersten Kriegsmonate zeigen, dass nun schlagartig auch Zivilperso-
nen – zum Teil gewalttätig – ihre Normen auf der Straße anwandten.
Der Historiker Jörn Leonhard spricht hierbei treffenderweise von einer „Herr-
schaft des Verdachts“, die sich in allen Kriegsstaaten ausbreitete.84 Diejenigen
Frauen, die an der „Heimatfront“ waren, waren daher nicht nur einer Doppel- und
Dreifachbelastung (außerhäusliche Arbeit, Hausarbeit, Ernährung, Betreuung, Er-
ziehung), sondern – infolge der „Herrschaft des Verdachts“ – letztendlich einer
unbestimmbaren Mehrfachbelastung ausgesetzt. Sie waren aber wie die Männer
nicht nur von der „Herrschaft des Verdachts“ (passiv) betroffen, sondern sie tru-
gen auch zu deren Entstehung bei. Frauen demonstrierten vor Geschäften. Frauen
beteiligten sich an den „Lynchaktionen“. So lässt sich auch für Graz festhalten, dass
die „Herrschaft des Verdachts“ (Jörn Leonhard) und die (von mir konzeptionell
angebotene) „Herrschaft des Prüfens“ das Vertrauen in den Mitmenschen nach-
haltig erschütterte. Und die Tatsache, dass es bezüglich der innerstädtischen Über-
Feststellung, in: Grazer Tagblatt 8.11.1914 (2. Morgenausgabe), 3; Feststellung, in: Arbeiterwille,
8.11.1914, 8.
84 Begriff nach Jörn Leonhard (2014), 209, 224, 262, 369, 400, 508, 545, 696, 779, 939, 1002.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453