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Begriffsklärung und Fragestellungen 11
1.2.1 Netzwerke und Gruppen
Die Wissenschaftsgemeinschaft umfasste zunächst all diejenigen, die sich mit der Ra-
dioaktivitätsforschung befassten, unabhängig von ihrer beruflichen Position oder Na-
tionalität. Nicht jeder Radioaktivist war in den Wissenschaftsbetrieb, das heißt in
akademische Institutionen im engeren Sinne, eingebunden. Der Begriff der Gemein-
schaft impliziert allerdings, dass ihre Mitglieder über eigene Kommunikationsmedien
wie beispielsweise Fachkonferenzen und Fachzeitschriften verfügten.9 Darüber hinaus
teilten sie ein gemeinsames Ethos als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, das
jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, immer wieder neu verhandelt wurde.
Die Radioaktivistengemeinschaft schuf sich Netzwerke, in denen Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler untereinander oder mit Akteuren in Kontakt traten, die au-
ßerhalb des Wissenschaftsbetriebs standen.10 Dazu zählten Vertreter der Industrie, der
Ärzteschaft und der öffentlichen Hand. Wer dem Netzwerk angehörte und wer ausge-
schlossen wurde, war ebenso Verhandlungssache wie die Frage, wie Ressourcen, Arbei-
ten und Verantwortlichkeiten verteilt wurden. Stets galt es, das Spannungsverhältnis
von Zusammenarbeit und Wettbewerb, von autonomem und abhängigem Verhalten,
von freundschaftlichem Vertrauen und Kontrolle zu evaluieren und auszutarieren.11
Die Netzwerke der Radioaktivistengemeinschaft verfügten über Knotenpunkte, in
denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um bedeutende Forscherpersön-
lichkeiten scharten. In diesen Gruppen herrschten oft starke innere Bindungen, die
durch gemeinsame wissenschaftliche Praktiken und Methoden, zuweilen auch durch
Abgrenzung nach außen, gefestigt wurden.12 Die Forschungsmethoden und -technolo-
gien hingen von den wissenschaftspolitischen Gegebenheiten ab unter denen eine
Gruppe arbeitete, das heißt von der jeweils vorhandenen Laborstruktur, den materiel-
len Ressourcen und der disziplinären Verankerung des Forschungsfeldes.13
Die Netzwerkbildung fand keineswegs ausschließlich in den Grenzen des National-
staates statt. Vielmehr war die Radioaktivistengemeinschaft seit dem späten 19. Jahr-
hundert auf vielfältige Weise international miteinander verflochten. Die Studie veror-
tet die Radioaktivitäts- und Kernforschung in Österreich in zwei sich überlagernden
Netzwerken. Sie wird einerseits in den Kontext der globalen scientific community ge-
9 Dazu zählten etwa die Zeitschriften »Le radium. La radioactivité et les radiations«, Paris 1904ff. und das
»Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik«, Leipzig 1904ff.
10 Vgl. zum Netzwerkbegriff allgemein Fangerau/Halling 2009, 269, 281. Einen Überblick über Analysen
wissenschaftlicher Netzwerke schwedischer Wissenschaftler gibt Sörlin 1992.
11 Vgl. Sydow/Windeler 1998.
12 Vgl. Fuhse 2006, 245, 249.
13 Vgl. Brookman 1979, 20.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369