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Begriffsklärung und Fragestellungen 15
In vielen wissenschaftshistorischen Arbeiten werden die einmal als zentral oder pe-
ripher definierten geographischen Koordinaten eines Forschungsstandortes als gegeben
vorausgesetzt und die Änderungen des Koordinatensystems nicht untersucht.19 Die
vorliegende Studie fragt hingegen genau nach diesen räumlichen Veränderungen und
ihren Folgen für die Radioaktivitäts- beziehungsweise Kernforschung in Österreich.
Wien, Residenzstadt der Habsburger und neben Budapest Hauptstadt der Österrei-
chisch-Ungarischen Monarchie, wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom unbestrittenen
wissenschaftlichen und politischen Zentrum eines Vielvölkerstaates zur Metropole des
Rumpfstaates (Deutsch-)Österreich. Am Beispiel Österreichs lassen sich das Span-
nungsverhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Zentrum, in dem materielle und
immaterielle Ressourcen gebündelt werden, und der Peripherie, die eine tendenziell
schlechtere Ressourcenausstattung als das Zentrum aufweist, sowie die Dynamik bei-
der Seiten historisch besonders gut aufzeigen.
Die Problematik, mit der wissenschaftliche Zentren im Gegensatz zu den periphe-
ren Orten konfrontiert sind, brachte der Wissenschaftssoziologe Rainald von Gizycki
in den frühen 1970er Jahren auf den Punkt :
»Countries which are near the centre have an inducement to learn the language of the centre,
to send their students to study at the centre’s institutions, to adapt their structures to the
centre’s, to imitate and to adapt the models of institutional organisations from the centre, to
participate in conferences and to follow the literature more alertly. […] [T]he periphery has
an advantage over the centre because the time-lag of imitation causes the centre to become
exhausted while it still believes that it is the centre. The periphery can change and reorient
itself while the centre is still labouring under the heavy burden of its own traditions and
institutional attachments.«20
An diese Überlegungen anschließend frage ich danach, welche Folgen die politisch-
geo graphische Dezentralisierung Wiens und des deutschsprachigen Österreichs für die
dortige Radioaktivisten- und Kernforschungsgemeinschaft hatte. Dabei ist einerseits
zu untersuchen, wie sich der Prozess der Dezentralisierung auf internationaler Ebene
auswirkte : Was bedeutete es speziell für die Wiener Radioaktivisten und Radioaktivis-
tinnen, an der Peripherie und eben nicht mehr in einem der vier großen Zentren der
frühen Radioaktivitätsforschung zu forschen ? Besonders interessant ist es auch zu er-
fahren, wie sich die Verbindungen zu den nicht-deutschsprachigen Nachfolgestaaten
der untergegangenen Monarchie gestalteten, deren Universitäten vor 1918 in vielerlei
19 Vgl. Gavroglu 2008 ; Simon/Herran 2008 ; Presas i Puig 2005.
20 Gizycki 1973, 494.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369