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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191836
das Radium zu möglichst günstigen Konditionen zu erwerben, suchten viele den direk-
ten Kontakt zu den Herstellern und boten im Gegenzug ihre fachliche Expertise an.32
In Großbritannien und in den USA etablierte sich die Radiumindustrie, anders als
im Deutschen Reich und in Frankreich, nur schleppend. Ramsay war einer der weni-
gen britischen Radioaktivitätsforscher, der seine Versorgung mit radioaktivem Material
dadurch sicherzustellen suchte, dass er die British Radium Corporation und ihre Ra-
diumfabrik in Limehouse mitbegründete.33 Der bereits erwähnte Bertram Boltwood
suchte einen Ausweg aus seiner tendenziell prekären Materialsituation, indem er im
Auftrag der Welsbach Company Thorium extrahierte und nebenbei aus dem uranhal-
tigen Gestein Radioblei und daraus wiederum Polonium gewann.34
Im Deutschen Reich gingen einige Radioaktivisten einen anderen Weg. Der deut-
sche Radiochemiker Otto Hahn hatte 1905, während eines Forschungsaufenthaltes am
University College London bei Ramsay, ein neues Zerfallsprodukt entdeckt, das sich
chemisch nicht von Thorium unterschied, aber sehr viel stärker radioaktiv war : das
Radiothor. Zurück in Berlin, fand Hahn 1907 die Muttersubstanz von Radiothor, die
er Mesothor nannte. Hahn arbeitete als Laborleiter am Chemischen Institut der Berli-
ner Universität eng mit der Firma Knöfler & Co. zusammen, die im Deutschen Reich
schnell zum Alleinanbieter von Thorium avancierte.35 1911 erhielt Knöfler & Co. von
Hahn das Patent zur Herstellung von Mesothor.36 Daneben pflegte er gute Kontakte
mit der Berliner Auergesellschaft, die ebenso wie Knöfler & Co. Mesothor für medizi-
nischen Bedarf und für die Leuchtfarbenproduktion herstellte.37 Mesothor, auch das
deutsche Radium genannt, war für die medizinische Anwendung attraktiv, denn sein
Preis lag ein Drittel bis die Hälfte unter dem des Radiums.38
32 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 56 ; Roqué 2001a, 56 ; Fattinger 1937, 12.
33 Vgl. Rentetzi 2008, 439.
34 Vgl. CUL, RC, Add 7653, B 206 : Boltwood an Rutherford vom 21.2.1909.
35 Vgl. Ceranski 2005b, 105. Hahns britischer Kollege Soddy forderte 1909 verschiedene Thoriumprodu-
zenten auf, das neu entdeckte Element Mesothor industriell herzustellen, scheiterte aber am Geheimhal-
tungsvertrag, den dessen Entdecker Hahn mit der Firma Knöfler abgeschlossen hatte. Er machte sich
daher an die Umgehung der Patente. Vgl. Freedman 1979, 258.
36 Otto Hahn erhielt für seine Mitarbeit von der Firma Knöfler mit über 100.000 Mark eine beträchtliche
Vergütung. Vgl. Hoffmann 1993, 49. Zur Kritik Meitners an Hahns industriellem Engagement siehe
Ernst 1992, 15–16. Die Rechtsvorgängerin der deutschen Auergesellschaft, die Deutsche Gasglühlicht
Aktiengesellschaft, war 1892 unter Mitwirkung des österreichischen Industriellen Carl Auer von Wels-
bach gegründet worden. Die Auergesellschaft begann um die Jahrhundertwende mit der Produktion
radioaktiver Substanzen. Mit Aufnahme der Mesothor-Produktion verlegte sich das Unternehmen auf
die Herstellung radioaktiver Leuchtfarben und lumineszierender Stoffe beziehungsweise Erzeugnisse für
die Röntgendiagnostik. Vgl. Auergesellschaft 1978, 5–6.
37 Vgl. Hahn 1968, 83.
38 Vgl. Helvoort 2001, 40. Die Auergesellschaft produzierte 1909 pro Jahr etwa zwei Gramm Mesothor,
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369