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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191838
der Kommission war gleichwohl wissenschaftlich begründet : Naturwissenschaftler und
Naturwissenschaftlerinnen aus der Monarchie
– und das bedeutete de facto, die deutsch-
sprachigen Vertreter – sollten das Radium für ihre Forschung nutzen können.
Die Kommission wurde zu einer Zeit tätig, als sich abzeichnete, dass die verfügbare
Pechblende zur Neige ging.42 Als Pierre Curie gemeinsam mit der SCPC 1903 erneut
eine größere Menge Pechblende in Wien orderte, ergriff sie die Initiative. Die Großbe-
stellung aus Frankreich sollte zugunsten ihres eigenen Antrags zurückgestellt werden.43
Das patriotische Argument der Kommissionsmitglieder, nun endlich »die Beteiligung
der österreichischen Gelehrtenwelt an der Erforschung eines österreichischen Produk-
tes zu ermöglichen, welches durch seine fremdartigen Eigenschaften in diesem Augen-
blicke die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen hat«, fand im k. k. Acker-
bauministerium Gehör.44
In St. Joachimsthal hatte man auf Betreiben des k. k. Ackerbauministeriums zuvor
vergeblich versucht, selbst radioaktive Präparate herzustellen. Auch bedeutende Indus-
trieunternehmen wie der im nordböhmischen Aussig ansässige Österreichische Verein
für Chemische und Metallurgische Produktion bekundeten ihr Interesse, Radium im
industriellen Maßstab herzustellen und forderten eine entsprechend große Menge an
Rückständen.45 Schließlich erhielt aber doch die Akademie den Zuschlag. Im Früh-
jahr 1904 gab das Ministerium der Wiener Kommission die Zusage, insgesamt zehn
Tonnen Uranerzrückstände aus St. Joachimsthal bereitzustellen, um daraus Radium zu
extrahieren. Im Gegenzug sei das Ministerium über den Fortgang der Produktion zu
informieren. Die gleiche Menge wurde dem Ehepaar Curie zugesagt und zwischen
1905 und 1906 auch nach Paris geliefert, nachdem Pierre Curie Eduard Suess schrift-
lich versichert hatte, dass ihre Nutzung rein wissenschaftlichen Zwecken diente.46
1904/05 vergab die Wiener Akademie den Auftrag, die böhmische Pechblende zu
verarbeiten, an die Gasglühlichtfabrik in Atzgersdorf bei Wien, die der Erfinder-Un-
ternehmer Carl Auer von Welsbach 1887 gekauft und umgerüstet hatte, um dort Sel-
tene Erden aufarbeiten zu lassen und um Imprägnierflüssigkeit für Gasglühstrümpfe
herzustellen.47 Ludwig Haitinger, der Direktor der Atzgersdorfer Fabrik, stellte ge-
42 Vgl. Hessenbruch 1994, 46.
43 Siehe dazu Boudia 2001, 90.
44 AÖAW, FE-Akten, IR, Archiv der Akademie der Wissenschaften, K 1, Fiche 1 : Präsidium der Kaiser-
lichen Akademie der Wissenschaften an Ministerium für Cultus und Unterricht vom 15.1.1904.
45 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 69–71, 80.
46 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 341 : Überweisung von Pechblenderückständen von
St. Joachimsthal an Madame Curie, undatiert.
47 Auer von Welsbach hatte die Anfrage der Akademie bereits im Juli 1901 positiv beantwortet und angebo-
ten, Uranpecherz in Atzgersdorf zu Radium aufzuarbeiten. Vgl. Gross/Löffler 2012, 186–189.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369