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Österreich-Ungarn in der internationalen Radiumökonomie 39
meinsam mit dem Chemiker Carl Ulrich aus der böhmischen Pechblende in einem
komplizierten Prozess der fraktionierten Kristallisation innerhalb der nächsten drei
Jahre vier Gramm Radium her und damit die größte je auf der Welt hergestellte Radi-
ummenge.48
Da die in St. Joachimsthal auf Halde liegenden Uranerzrückstände zu jener Zeit fast
vollständig erschöpft waren, konnte Pechblende nur aus der laufenden Uranerzförde-
rung abgegeben werden. Die von der Akademie angeforderte Menge entsprach in etwa
den Rückständen, die bei der St. Joachimsthaler Uranfarbenfabrikation in einem Zeit-
raum von drei Jahren anfielen. Mit der Entscheidung, künftige Rückstände bevorzugt
dazu zu verwenden, die Anträge aus Wien und Paris zu erfüllen, war die Grundlage für
Pechblende-Exporte an Dritte, insbesondere an die florierende deutsche Radiumindu-
strie, bis auf weiteres entzogen.49 Der britische Chemiker Frederick Soddy, der wie
viele seiner Kollegen Präparate aus dem Deutschen Reich bezog, machte seinem Ärger
in einem Brief an Rutherford Luft :
»Do you know I have a shrewd suspicion Curie has nobbled the Austrian Government and
secured the monopoly of the Joachimsthal mine, i.e. the only practicable source of radium,
damn him. The Austrian Government have closed down on supplies of the residues […]. The
German people write me that the residue is not to be had. Things will soon look bad, unless
they find some in your part of the world.«50
Soddys Sorge war durchaus berechtigt. So wurde beispielsweise die Anfrage der Royal
Society, Pechblende nach London zu liefern, durch das k. k. Ackerbauministerium
vorerst zurückgestellt.51
Die Herstellung des ersten Radiums auf dem Territorium der Monarchie führte den
Ministerialbeamten dessen ökonomisches Potenzial eindrucksvoll vor Augen. Das in
Atzgersdorf erzeugte Material hatte einen Marktwert von etwa zwei Millionen Kronen.52
Der Investitionsaufwand der Akademie lag hingegen unter 20.000 Kronen.53 Die weni-
gen damals bekannten Fundstellen für den Ausgangsstoff Uranerz, die große Menge des
48 Vgl. Braunbeck 1996, 56.
49 Vgl. Ceranski 2012, 52. Der deutsche Radioaktivist Willi Marckwald, der eng mit der Hamburger Firma
Sthamer zusammenarbeitete, erhielt im Herbst 1903 zunächst vom Ministerium eine Absage, nachdem
er 500 Kilogramm Rückstände angefordert hatte. Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 61, 88–91.
50 CUL, RC, Add 7653, S 116 : Soddy an Rutherford vom 4.12.1903. Siehe zu deutsch-britischen Radium-
transaktionen Hessenbruch 1994, 53.
51 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 102–103.
52 Vgl. Ceranski 2008a, 426.
53 Die Akademie zahlte der Atzgersdorfer Firma 9.185 Kronen, um die Selbstkosten der Produktion zu
decken, sowie 8.040 Kronen für die Erzrückstände. Vgl. Meyer 1950, 10.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369