Seite - 52 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 52 -
Text der Seite - 52 -
Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191852
In Berlin wurde 1912 das KWI für Chemie eröffnet, dessen Abteilung für Radioakti-
vitätsforschung sich unter der Leitung Otto Hahns zu einem Zentrum dieser For-
schungsrichtung im Deutschen Reich entwickelte. Die Radioaktivitätsforschung nahm
dort, ähnlich wie in Paris und Wien, eine »Zwitterstellung« zwischen Physik und
Chemie ein. Hahn widmete sich vornehmlich der chemischen Erforschung der Radio-
aktivität, während die 1907 nach Berlin gekommene Wiener Physikerin Lise Meitner
physikalische Aspekte radioaktiver Strahlung erforschte. Nach Hahns eigenen Anga-
ben war der Etat seiner Abteilung mit einem Umfang von 2.000 Mark für Personal-
und Sachausgaben pro Jahr anfangs sehr bescheiden. Deren Räumlichkeiten und die
Ausstattung waren jedoch üppig und vor allem nicht radioaktiv verseucht.107 Meitner
übernahm 1918 die Leitung der eigens für sie geschaffenen radiophysikalischen Abtei-
lung am KWI für Chemie.108 Die Beziehungen zwischen dem Hahn/Meitner-Institut
und dem Institut für Radiumforschung waren, besonders auch wegen der regelmäßi-
gen Reisen Meitners nach Wien, besonders eng.109
Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) richtete 1912 in Berlin-Charlot-
tenburg ebenfalls ein Radiumlaboratorium ein, dessen Leitung der aus Manchester
zurückgekehrte Rutherford-Schüler Hans Geiger übernahm.110 Das Labor gewann
gerade auch im Hinblick auf seine spätere kernphysikalische Forschungsarbeit neben
Meitners Abteilung am KWI für Chemie zentrale Bedeutung im deutschsprachigen
Raum. Seit seiner Gründung wurden im Charlottenburger Labor in bedeutendem
Umfang Eichungen radioaktiver Präparate durchgeführt. Die PTR hatte nicht zuletzt
durch das Engagement Geigers in der Internationalen Radiumstandard-Kommission
eine gewichtige Stimme in radioaktiven Standardisierungsfragen. Mit dem Institut für
Radiumforschung in Wien ergaben sich dadurch vielfach Anknüpfungspunkte.
Nachdem das Wiener Institut im November 1910 feierlich eröffnet worden war,
überreichte ihm die Akademie einen Großteil des in Atzgersdorf hergestellten Radiums
von insgesamt vier Gramm als Gründungsgeschenk.111 Betrachtet man die Verteilung
von Radiumpräparaten auf verschiedene Forschungslaboratorien vor dem Ersten Welt-
krieg, so wird die privilegierte Lage der Wiener Radioaktivisten und Radioaktivistin-
nen deutlich. Um 1910 stand weltweit eine Gesamtmenge von circa neun Gramm
Radium für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung. Die Wiener Akademie verfügte
über fast die Hälfte dieses Bestandes. Ernest Rutherford besaß als Leihgabe der Akade-
mie ein Präparat von 300 Milligramm Radium. Marie Curie gehörten offiziell etwa 1,5
107 Vgl. Hahn 1962, 69.
108 Vgl. Sime 2001, 102.
109 Vgl. Kant 2005, 300.
110 Vgl. Kant 2005, 290–293.
111 Vgl. Meyer 1950, 10.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369