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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191866
batte über die Natur und Trennbarkeit verschiedener Isotope desselben chemischen
Elements, die bis in die 1930er Jahre andauerte.182
So konziliant und hilfsbereit er sich seinen in- und ausländischen Kolleginnen und
Kollegen gegenüber zeigte, so wenig war Meyer als Leiter des Instituts für Radiumfor-
schung geneigt, die Ärzteschaft mit radioaktiven Präparaten zu versorgen. Obwohl die
Radiumtherapie noch in den Kinderschuhen steckte und als extrem teure Behandlung
wohlhabenden Patienten vorbehalten blieb, stellten die Ärzte in Meyers Augen und
auch aus Sicht vieler seiner Kollegen eine ärgerliche Konkurrenz dar. Mehr als einmal
musste die internationale Radioaktivistengemeinschaft die Erfahrung machen, dass das
k. k. Montan-Verkaufsamt und das k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten die me-
dizinische Nachfrage bevorzugt bediente. Einige Ärzte, die dank Spendengeldern sol-
vent genug waren, bestellten in Wien hochreines Radium in größeren Mengen, wäh-
rend entsprechende Anfragen von wissenschaftlicher Seite unberücksichtigt blieben.183
Kein Wunder also, dass Meyer kaum geneigt war, mit den unliebsamen Rivalen zusam-
menzuarbeiten. Eine von vielen Anfragen aus dem Kreis der Wiener Ärzteschaft, ob
das Institut für Radiumforschung dabei helfen könne, Polonium für medizinische
Zwecke zu gewinnen, lehnte er strikt ab :
»Was die ›Radiumstation‹ und das gewünschte Radioblei anbelangt, so ist es eigentlich meine
Meinung, […] dass es rationeller ist, das Blei zu behalten und Polonium abzugeben, wozu
wir dem betreffenden […] alle Anweisungen geben würden. Derzeit kauft, wie ich höre,
diese Station um teures Geld Po[lonium] aus Deutschland, woher, weiss ich nicht. Wir ha-
ben keinesfalls Lust für die Mediziner, die uns ohnedies beständig am Halse sitzen und un-
sere Zeit mehr als gebührlich in Anspruch nehmen, beständig die Poloniumabscheidung zu
machen, darauf aber liefe es wohl hinaus, wenn die Station das Blei direct bezieht. Eine In-
tervention haben wir bisher jedenfalls nicht in Aussicht gestellt.«184
Anders als in Paris, London oder Stockholm kam es in Wien vorerst nicht zu einer
engen fachlichen Kooperation von Medizinern, Biologen und Physikern. Meyer
konnte sich seine ablehnende Haltung leisten, weil die Statuten seines Instituts medi-
182 Vgl Mehra/Rechenberg 1987.
183 Vgl. CUL, RC, Add 7653, M 111 : Meyer an Rutherford vom 19.6.1911. Das Radium Institute in Lon-
don verfügte 1913 über eine der größten Radiumvorräte überhaupt, nämlich rund drei Gramm. Siehe
zur staatlichen Förderung von medizinisch-radiologischen Forschungseinrichtungen Hessenbruch 1994,
48.
184 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 20, Fiche 322 : Meyer an Ulrich vom 8.11.1913. Radioblei (Ra-
dium D) ist in sehr verdünnter Form in beliebiger Menge als Bleichlorid aus Pechblende zu erhalten. Es
wird zur Abscheidung von Radium E und F (Polonium) verwendet.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369