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Das Zentrum etabliert sich 73
zähen Verhandlungen rang Meyer dem k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten
schließlich die Zusicherung ab, die von Curie benötigte Menge radioaktiven Materials
für die Kommission zurückzuhalten. Zugleich steuerte er dem Ansinnen seiner briti-
schen Kommissionskollegen Rutherford und Soddy geschickt entgegen, die vorschlu-
gen, doch gleich das am Institut für Radiumforschung vorhandene Radium zu verwen-
den, statt es für teures Geld bei der k. k. Regierung zu erwerben :
»Die ganzen Untersuchungen hier und insbesondere auch die Atomgewichtsbestimmung
und die Reindarstellung wird mit den unserem Institute gehörigen und natürlich unverkäuf-
lichen Substanzmengen durchgeführt. Unser Institut besitzt kein anderes Material und leider
können auch wir von der Regierung unter keinen anderen Bedingungen etwas erhalten, als
irgendwer anderer. Die Mediziner mit ihren großen Ansprüchen und ihrem vielem Geld
haben uns da das ganze Geschäft verdorben und alles was produciert wird, wird leider sehr
rasch an diese verkauft. Ich konnte vorläufig nur erreichen, dass, was noch nicht verkauft ist,
fallweise in geschlossenen Gefässen uns gegen vierwöchentliche Kündigung zur Verfügung
gestellt wird«.206
So sehr man sich in Großbritannien und anderswo über den eigennützigen Umgang
der Kollegen aus Österreich mit »ihrem« Radium ärgerte – es gab faktisch keine Alter-
native, als sich in die Situation zu fügen. Da die Kommission über keine eigenen
Geldmittel verfügte, spendete das schottische Ehepaar Beilby, Frederick Soddys wohl-
habende Schwiegereltern, das Geld, um Curie die Kosten für die Erstellung des Urnor-
mals zu ersetzen.207
Marie Curie brauchte wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes und ihrer an-
derweitigen Forschungsaktivitäten über ein Jahr, um das Urnormal herzustellen. Die
Wiener erhielten dadurch reichlich Gelegenheit, sich auf dem Gebiet der Standardisie-
rung weiter zu profilieren. Das Institut für Radiumforschung verfügte nicht nur über
genügend eigenes Radium, um daraus mehrere verlässliche Eichstandards zu erstellen.
Dort war mit dem schon erwähnten Otto Hönigschmid auch ein qualifizierter Mitar-
beiter vorhanden. Der Prager Radiochemiker fertigte mehrere vorläufige Radiumstan-
dards, ohne dafür von der Radiumstandard-Kommission ausdrücklich beauftragt
wor
den zu sein.208 Zudem bestimmte er während seiner Gastaufenthalte in Wien das
Atomgewicht des Radiums neu.209 Nach den in Brüssel verabschiedeten Regeln war
206 CUL, RC, Add 7653, M 111 : Meyer an Rutherford vom 19.6.1911.
207 CUL, RC, Add 7653, S 151 : Soddy an Rutherford vom 23.11.1911.
208 Vgl. CUL, RC, Add 7653, M118 : Meyer an Rutherford vom 5.11.1911. Hahn spricht in seinen Me-
moiren dagegen von einem expliziten Auftrag. Vgl. Hahn 1962, 67.
209 Vgl. Hönigschmid 1911 ; Hönigschmid 1912.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369