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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191876
Wienern wollte er es sich nicht verscherzen. Die Kommissionsmitglieder einigten sich
darauf, einen der drei in Wien hergestellten Standards ex post facto als Reserve-Urnor-
mal anzuerkennen.222 Sowohl das Pariser Urnormal als auch das Wiener Reserve-Ur-
normal sollten künftig ausschließlich dazu dienen, sekundäre Standards zu eichen.
Daher untersagte die Kommission offiziell, die beiden Standards für experimentelle
Zwecke zu nutzen und verbot zugleich, das Pariser Urnormal aus dem Bureau des
Poids et Mesures zu entfernen. Mit dem Pariser Treffen hatte Wien sich als zweites
international anerkanntes Zentrum radioaktiver Metrologie neben Paris etabliert. Der
veränderte Status brachte neue Aufgaben mit sich. Meyer handelte als Kommissions-
Sekretär mit der k. k. Regierung günstige Konditionen für jene Länder aus, die Radium
erwerben wollten, um daraus Sekundärstandards herzustellen. Dadurch sollte verhin-
dert werden, dass die interessierten Länder an der Kommission vorbei mit der k. k.
Regierung handelseinig wurden. Sekundärstandards herzustellen, sollte Sache der
Kommission bleiben.223 Da es Curie ablehnte, weitere Standards zu produzieren, ent-
schied die Kommission, dass sekundäre Standards künftig in Wien hergestellt und dort
nach der γ-Strahlungsmethode mit dem Wiener Ersatz-Primärstandard (31,17 Milli-
gramm) verglichen werden sollten. Später wurden sie dann mit dem Pariser Urnormal
verglichen, um schließlich in Großbritannien durch Rutherford zertifiziert zu werden.
Das k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten beziehungsweise das ihm unterstellte
k. k. Montan-Verkaufsamt waren allerdings auch weiterhin wenig geneigt, der Kom-
mission entgegenzukommen. Schließlich gab es genügend andere Anwärter, die bereit
waren, für reines Radium Höchstpreise zu bezahlen. 1912 setzte sich sogar der briti-
sche König Georg V. erfolgreich dafür ein, dass die Regierung seines Landes, die ein
Gramm hochreines Radium für medizinische Zwecke in Wien bestellt hatte, bevorzugt
behandelt wurde. Resigniert berichtete Meyer nach Manchester : »Wenn Könige mit
Ministerien gesprochen haben, so bleibt dem gewöhnlichen Sterblichen nicht mehr
viel Bewegungsfreiheit.«224
Es ist aus den Quellen nicht ersichtlich, was die Regierung schlussendlich zum Ein-
lenken bewog. Möglicherweise war Meyer mit seinem Appell erfolgreich, dass interna-
tional anerkannte Radiumstandards für Wissenschaft und Industrie ähnlich bedeutsam
seien wie seinerzeit die Schaffung von Normalen für Maße und Gewichte. Der Handel
mit dem kostbaren Gut Radium sei viel zu lange dadurch behindert worden, dass die
222 Vgl. MC, ALC, Fiche 3817 : Bericht der Internationalen Radiumstandard-Kommission über die Zusam-
menkunft in Paris vom März 1912.
223 Vgl. CUL, RC, Add 7653, M 136 : Rutherford an Meyer vom 4.5.1912. Rutherfords Eigenteresse ging
mit seinen Interessen als Kommissionspräsident Hand in Hand : im selben Brief bedankte er sich dafür,
dass die Wiener Akademie die Rückgabefrist für das 1908 entliehene Radiumpräparat verlängert hatte.
224 CUL, RC, Add 7653, M 143 : Meyer an Rutherford vom 21.10.1912.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369