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Die Gefährdung des Zentrums 87
ber 1916 nahm Meitner die Arbeit an dem Projekt unter schwierigsten Bedingungen
allein wieder auf. Sie bemühte sich um einen möglichst direkten Nachweis des Actini-
ums und benötigte sehr viel stärkere Präparate als die bis dahin gewonnenen, und da-
her auch größere Mengen an Ausgangsmaterial. Der Versuch, auf eigene Faust über das
k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten St. Joachimsthaler Pechblende zu erwerben,
scheiterte am Exportverbot.275 Auch am Institut für Radiumforschung wollte man ihr
zunächst nicht helfen. Enttäuscht schrieb sie an Hahn :
»Von Wien Actinium zu kriegen, ist keine Aussicht. Sie wollen es dort nicht aus der Hand
geben, obwohl sie keine systematischen chemischen Untersuchungen damit machen. Auer
[von Welsbach] wurstelt wohl dran herum, und Stefan Meyer misst die Aktivitäten, aber
ohne bestimmten Arbeitsplan.«276
Tatsächlich war in Wien schon im Frühjahr 1914 mit systematischen Untersuchungen
der Actiniumreihe begonnen worden, was Meyer im Bewusstsein der Arbeiten Hahns
und Meitners aber geheim zu halten suchte.277 Carl Auer von Welsbach hatte die Acti-
niumpräparate hergestellt und den Wienern für experimentelle Zwecke überlassen.278
Auch Meitner erzählte Meyer nicht »mehr als das Notwendigste von unsern Versu-
chen«, wie sie Hahn gegenüber einräumte.279 Der fachliche Dialog mag durch Miss-
trauen und Konkurrenzdenken erschwert worden sein, doch der Austausch von Fach-
literatur war davon nicht beeinträchtigt. Das Institut für Radiumforschung bezog über
das KWI für Chemie in Berlin während der gesamten Kriegsdauer in- und ausländi-
sche Fachliteratur, die in Österreich-Ungarn nicht zu bekommen war. Auch Meitner
beteiligte sich an den Korrekturen der bereits erwähnten Monographie von Meyer und
Schweidler.280
Es geht aus den Quellen nicht hervor, was Meyer schließlich dazu bewog, Meitner
bei ihrer Materialsuche zu unterstützen. Meyer war daran interessiert die Actinium-
frage zu klären, und möglicherweise fehlte ihm wegen des Krieges das notwendige
275 Vgl. CAC, MTNR 5/12/3, Bl. 27–28 : Meier an Meitner vom 22.6.1917. Die k. k. Behörden verhängten
das Ausfuhrverbot, nachdem die deutschen Behörden angekündigt hatten, radioaktive Materialien für
Kriegszwecke zu beschlagnahmen. Meitner hatte zuvor bei Friedrich Giesel beziehungsweise der Firma
Buchler & Co. in Braunschweig um radiumfreie Rückstände angesucht und einige hundert Gramm
Rückrückstände aus der Radiumverarbeitung hochprozentiger Pechblende erhalten. Vgl. Meitner an
Hahn vom 19.6. und 27.7.1917, zitiert bei Ernst 1992, 73.
276 Meitner an Hahn vom 16.11.1916, zitiert bei Ernst 1992, 62, 186, 188.
277 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 303 : Meyer an Schweidler vom 8.4.1914.
278 Vgl. Meyer/Paneth 1918, 147–193.
279 Vgl. Meitner an Hahn vom 7.5.1917, zitiert bei Ernst 1992, 68.
280 Vgl. Ernst 1992, 145.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369