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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–193298
anderen war auswärtige Konkurrenz an österreichischen Universitäten nicht zu be-
fürchten, da das Staatsamt für Unterricht und Kultus Berufungen aus dem Ausland aus
finanziellen Gründen ablehnte. Die geringen Ordinariengehälter und die bescheidene
apparative Ausstattung der meisten Physikalischen Institute machten einen Posten an
den Universitäten Wien, Graz oder Innsbruck für auswärtige Bewerber auch nicht
unbedingt attraktiv.20 Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Leuthner, Bericht-
erstatter für Unterricht bei den Beratungen über den Staatsvoranschlag 1919/20,
warnte in einer Rede vor der Konstituierenden Nationalversammlung vor den Folgen
der Sparpolitik. Durch die langjährige Vernachlässigung des Hochschulwesens
»würde es heute wohl recht schwer fallen, Männer ersten Ranges zu nennen, die an den
deutschösterreichischen Hochschulen tätig sind. Die Universitäten und Technischen Hoch-
schulen sind immer mehr in die Gefahr, in die sehr bedenkliche Lage geraten, den Eindruck
einer gewissen Durchschnittsmäßigkeit zu machen.«21
Leuthners Mahnung fand im Staatsamt kein Gehör. Gerade im Falle der Physik sei der
Bedarf an ausländischen Fachkräften gering, da hier »eine Reihe besonders tüchtiger
aus der W[iene]r. Physikerschule hervorgegangener Kräfte zur Verfügung stehen«.22
In der Tat kamen bei der Besetzung der wenigen zwischen 1918 und 1938 vakant
werdenden Physikalischen Lehrkanzeln fast ausschließlich Exners Schüler zum Zug,
was auch daran lag, dass in Besetzungsfragen das Senioritätsprinzip galt und somit die
Chancen der älteren Generation besonders gut waren.
Die Berufungspolitik, die für das Feld der Radioaktivitätsforschung personell, ma-
teriell und auch ideell weitreichende Folgen hatte, spielte auch im Streit um das Erbe
Franz Serafin Exners eine ausschlaggebende Rolle. Die Regelung seiner Nachfolge zeigt
exemplarisch die Bedingungen, unter denen seine Schüler ihren Einfluss auf die phy-
sikalische Ausbildung im Allgemeinen und die Radioaktivitätsforschung im Besonde-
ren festigen konnten. Dass der langjährige inoffizielle Leiter des Instituts für Radium-
forschung, Stefan Meyer, die Institutsleitung übernehmen würde, war im Staatsamt
unstrittig :
20 Die Diskussion um die im Vergleich zu deutschen Ordinarien geringere Besoldung der Professoren in
Österreich entspann sich bereits um die Jahrhundertwende. Vgl. Höflechner 1993, 9, 13.
21 Abg. K. Leuthner in der 78. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Öster-
reich am 29.4.1920, zitiert bei Buchegger 1981, 252–254.
22 ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/19906, Bl. 4–7 : Antrag des
mit der Leitung des Unterrichtsamtes betrauten Unterstaatssekretärs, Ernennung zweier Universitätspro-
fessoren vom 29.9.1920.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369