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Das regionale Netzwerk festigt sich 103
wichtige Funktion : er schweißte die Mitglieder zusammen, die sich untereinander
keineswegs immer gewogen waren. Indem sie sich gegen Ehrenhafts offensiv formu-
lierte Ansprüche verbündeten, lenkten sie davon ab, dass es zwischen jüngeren und
älteren Exner-Schülern fachliche wie weltanschauliche Konflikte gab und dass sich
sogar Freunde und einstige Kollegen heftige Verteilungskämpfe um Arbeitsmittel und
Forschungsgelder lieferten.41
Nicht nur in Wien, auch an den Universitäten Graz und Innsbruck behielten die
Schüler Exners das Zepter in der Hand. In Graz wirkte der 1910 zum Ordinarius für
Physik berufene Physiker Hans Benndorf. Victor Hess, ein Exner-Schüler der zweiten
Generation, wurde 1920 als wirklicher außerordentlicher Professor für Experimental-
physik nach Graz berufen.42 Die verzweifelte materielle Lage bewog ihn jedoch im
darauf folgenden Jahr, sich beurlauben zu lassen und eine Stelle als Leiter des For-
schungslabors der United States Radium Corporation in Orange, New Jersey anzuneh-
men. Nebenbei arbeitete er als Berater des US-amerikanischen Innenministeriums.43
Hess wurde nach seiner Rückkehr 1925 ordentlicher Professor an der Universität Graz.
An der TH Graz übernahm 1920 mit Fritz Kohlrausch ebenfalls ein jüngerer Exner-
Schüler die Lehrkanzel für Physik. In Innsbruck besetzten die beiden Exner-Schüler
der ersten Generation Egon von Schweidler und Friedrich von Lerch vorerst weiterhin
die Lehrkanzeln für Experimentalphysik.44 Während Lerch bis zu seiner Pensionie-
rung 1946 in Innsbruck blieb, kehrte Schweidler 1926 als Ordinarius und Vorstand
des I. Physikalischen Instituts an die Universität Wien zurück, wo er den langjährigen
Institutsleiter, Ernst Lecher, beerbte. Mit Schweidler kam ein Radioaktivist der ersten
Stunde nach Wien, der selbst allerdings weit weniger in neuere Entwicklungen der
Radioaktivitätsforschung involviert war als sein alter Freund Meyer und dessen Schüler.
Der akademische Arbeitsmarkt im Fach Physik wurde an den Universitäten und
Hochschulen Österreichs in den 1920er Jahren endgültig zu einem closed shop. Um
die Berufschancen der nachfolgenden Generation stand es dementsprechend schlecht.
41 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 303 : Schrödinger an Meyer vom 29.11.1926 und
30.11.1927.
42 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/19906, Bl. 11–12 : Antrag
auf Ernennung eines außerordentlichen Universitätsprofessors vom 29.9.1920.
43 Vgl. Bauer 1999, 79.
44 Schweidler kam 1911 nach Innsbruck. Seine Lehrkanzel wurde nicht wieder besetzt, nachdem er 1927
nach Wien berufen worden war. Vgl. Huter/Machek/Oberkofler/Steinmaurer 1971, 13, 94–97. Lerch
wirkte nach kurzer Tätigkeit an der TH Wien (1907) seit 1908 als außerordentlicher Professor an der
Universität Innsbruck. 1927 avancierte er zum Ordinarius des Physikalischen Instituts und trat 1946 in
den Ruhestand. Er war für die Grundausbildung der Physiker zuständig, während sich Victor Hess in
Innsbruck fast ausschließlich der Forschung widmete. Vgl. RAC, RF, RG 1.1, Series 705D, Box 3, Folder
20 : Memorandum on Prof. Jones’s Visit to Innsbruck vom 14.9.1932.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369