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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932104
Eine Karriere als besoldeter Ordinarius war jüngeren Physikern und Physikerinnen in
den 1920er und 1930er Jahren de facto verwehrt. Für Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler jüdischer Herkunft wurde es seit Mitte der 1920er Jahre noch schwerer,
sich zu habilitieren.45 Viele Jüngere verließen das Land, um ihre Karrieren andernorts
fortzusetzen. Georg von Hevesy, der während des Krieges wiederholt am Institut für
Radiumforschung gearbeitet hatte, kehrte nicht mehr nach Wien zurück, sondern ging
zu Niels Bohr nach Kopenhagen.46 Der frühere Assistent am Institut für Radiumfor-
schung, Fritz Paneth, verließ Wien in Richtung des Deutschen Reichs.47
Unterdessen stieg die Zahl der Studierenden in den naturwissenschaftlichen Fächern
an allen Hochschulen des Landes.48 Das Frauenstudium im Fach Physik war vor allem
ein Wiener Phänomen, wie der Vergleich mit den anderen Universitätsstädten zeigt.49
Schulabgängerinnen und Schulabgängern erschien eine wissenschaftliche Ausbildung
angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse oft als einzige Möglichkeit, der
grassierenden Arbeitslosigkeit zu entgehen.50 Als Folge des Ansturms auf die Univer-
sitäten nahm seit Ende der 1920er Jahre die Zahl der Doktoranden beiderlei Ge-
schlechts zu, obwohl es kaum besoldete Stellen im akademischen Mittelbau, das heißt
außerordentliche Professuren, Assistenzen oder wissenschaftliche Hilfskraftstellen,
gab.51
Der hohe Anteil an Frauen, die an den Wiener Physikalischen Instituten wissen-
schaftlich arbeiteten, ist zweifellos auch auf die frauenfreundliche Personalpolitik der
dort wirkenden Institutsvorstände zurückzuführen.52 Stefan Meyer förderte Frauen,
deren wissenschaftliche Begabung er erkannt hatte, nach Kräften, indem er ihnen an
seinem Institut einen Arbeitsplatz anbot und das erforderliche Forschungsmaterial
bereitstellte.53 Maria Rentetzi stellte die These auf, dass wissenschaftliche Mentoren
wie Meyer ihre Wirkung erst in Anbetracht der politischen, sozialen und kulturellen
45 Siehe dazu Reiter 2001b, 5–6.
46 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 212 : Hevesy an Meyer vom 1.5.1920.
47 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 204 : Hess an Meyer vom 18.12.1921.
48 Zur »Überproduktion von unterbeschäftigten Talenten« durch das österreichische Universitätssystem
während der Ersten Republik Fleck 2004, 234.
49 Vgl. Bischof 2006, 220–221, 223. Siehe zu den Verhältnissen an der Universität Graz Kernbauer/
Schmid
lechner-Lienhard 1996.
50 Vgl. Friesinger 2006, 20.
51 Vgl. Bischof 2000, 30. Siehe auch ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F
650/4 : Bericht des II. physikalischen Instituts vom 28.11.1931.
52 Vgl. Bischof 2006, 223–225. Eduard Haschek betreute in den 1930er Jahren den überwiegenden Teil,
nämlich fast zwei Drittel, der physikalischen Dissertationen. Vgl. Bischof 2004, 25.
53 Meyer verteidigte seine positive Haltung gegenüber wissenschaftlich tätigen Frauen vielfach gegen die
Kritik seiner männlichen Kollegen. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 209 : Hess an
Meyer vom 5.8.1946.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369