Seite - 105 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Verhältnisse im Roten Wien der 1920er Jahre voll entfalten konnten. Frauen hätten in
der sozialdemokratisch regierten Hauptstadt hervorragende Bedingungen vorgefunden,
um sich in der Radioaktivitätsforschung wissenschaftlich zu profilieren und beruflich
zu etablieren. Rentetzi bleibt jedoch den quellengestützten Beweis für ihre Annahme
schuldig.54 Zweifel sind angebracht, ob die sozialpolitischen Maßnahmen der Stadt
den Wiener Radioaktivistinnen tatsächlich halfen, beruflichen und privaten Rollener-
wartungen besser zu entsprechen. Bezeichnenderweise blieb die Mehrzahl der am Ins-
titut für Radiumforschung arbeitenden Frauen
– anders als ihre männlichen Kollegen
–
unverheiratet und kinderlos. Die Aussichten, mit Wissenschaft ihren Lebensunterhalt
zu bestreiten, waren auch im Roten Wien eher schlecht. Die meisten Frauen, die an
den Physikalischen Instituten forschten, erhielten entweder bescheidene Stipendien
oder arbeiteten ganz ohne Bezahlung. Über eine besoldete Anstellung an den Univer-
sitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen Österreichs entschieden
nicht sozialdemokratische Lokalpolitiker, sondern das federführende Bundesministe-
rium für Unterricht. Das Ministerium änderte seine Besetzungspolitik in den 1920er
Jahren aber kaum : In Wien, ähnlich wie in Graz und Innsbruck, hatten fast ausschließ-
lich Männer Aussicht auf eine bezahlte Anstellung im akademischen Bereich.55
Neben vielen Frauen fand auch die Gruppe der progressiveren Exner-Schüler an den
Hochschulen Österreichs keinen institutionellen Rückhalt.56 Die meisten Progressi-
ven gehörten der zweiten Generation von Exners Schülern an. Erwin Schrödinger und
Friedrich Kottler zählten ebenso dazu wie die 1915 beziehungsweise 1917 verstorbenen
Physiker Friedrich Hasenöhrl und Marian von Smoluchowski. Der Graben zwischen
progressiven und konservativen Mitgliedern des Exner-Kreises zeigte sich nicht nur in
physikalischen Fragen, sondern auch in politisch-weltanschaulicher Hinsicht. So hatte
sich beispielsweise Schweidler 1915 deswegen dagegen gewandt, dass Smoluchowski
dem im Krieg gefallenen Hasenöhrl nachfolgte, da »in Wien […] doch kein Pole, son-
dern ein Deutscher vorgeschlagen werden« solle.57 Erwin Schrödinger, der 1920 einen
Lehrauftrag in Jena übernahm, später nach Stuttgart, Breslau und schließlich nach
Zürich ging, kommentierte die Lage in Wien aus der Rückschau bissig :
54 Vgl. Rentetzi 2004a, 366–370. Das von Rentetzi zitierte Beispiel Hilda Fonovits-Smerekers, die ihren
besoldeten Posten als außerordentliche Assistentin am Institut für Radiumforschung 1922 aus familiären
Gründen aufgab, spricht m. E. gerade gegen die angeblich frauenfreundlichen Rahmenbedingungen im
Roten Wien.
55 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 650/4 : Namensliste der ordent-
lichen und außerordentlichen Assistenten an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, unda-
tiert [1931].
56 Vgl. Höflechner 1994, 66.
57 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 304 : Schweidler an Meyer vom 17.11.1915.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369