Seite - 106 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932106
»Ich lernte […], daß der Boden, auf dem ich lebte, und die Menschen, mit denen ich dort
lebte, nicht mehr geeignet waren, experimentellen Fortschritt entlang großzügiger Linien zu
erzielen. Das lag an vielem, unter anderem daran, daß das goldene Wiener Herz liebenswür-
dige Stümper […] an Schlüsselpositionen stellte, wo sie den Verkehr hemmten, während
wirkliche Persönlichkeiten dort nötig gewesen wären.«58
Die Konservativen, die zeitlebens an Exners Forschungsrichtungen festhielten, prägten
als Ordinarien die physikalische Ausbildung an den österreichischen Universitäten
maßgeblich. Exners Steckenpferde, namentlich die Radioaktivitäts- und Luftelektrizi-
tätsforschung sowie die Spektralanalyse, bildeten in den 1920er und 1930er Jahren
einen Schwerpunkt in Lehre und Forschung an den drei Universitäten des Landes.59
Es war in vielerlei Hinsicht Meyers Verdienst, dass sich das Institut für Radiumfor-
schung in den 1920er Jahren zu einem Ort entwickelte, an dem innovative Ansätze wie
die Atomzertrümmerungsforschung verfolgt werden konnten. Als rühriger, international
bestens beleumundeter Wissenschaftsorganisator nahm er innerhalb der älteren Genera-
tion der Exner-Schüler eine Sonderstellung ein. Anders als sein akademischer Lehrer gab
Meyer selbst zwar nicht unbedingt den Anstoß für neue Forschungsrichtungen, doch er
sorgte dafür, dass andere die bestmöglichen Bedingungen vorfanden, um ihre wissen-
schaftliche Arbeit nach eigenen Vorstellungen zu verfolgen. Meyers organisatorische
Umtriebigkeit stand im Gegensatz zur eher gedämpften Wirkung vieler seiner Freunde
und Kollegen. So verzichtete beispielsweise Jäger als Nachfolger Exners am II. Physika-
lischen Institut der Universität Wien darauf, gemeinsam mit Schülern ein eigenes For-
schungsfeld zu entwickeln, wie es bereits im Vorfeld seiner Berufung befürchtet worden
war. In einem Brief beschwerte sich Schrödinger bei seinem Freund Meyer :
»Trotz aller persönlichen Nettigkeit und Freundschaft für Jäger kann ich den Aerger darüber
nicht zurückdämmen, wie er unser schönes, reichausgestattetes zweites Institut verkommen
lässt. Wenn ein Mann vorgerückten Alters ist und nicht mehr die Schneid [sic !] hat, so was
ordentlich in die Hände zu nehmen, dann sollte er sich eben auch nicht an die Stelle drängen,
sondern sie jüngeren überlassen.«60
58 Schrödinger 2006, 16–17. Siehe auch AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 303 : Schrödinger
an Meyer vom 30.11.1927.
59 Vgl. Huter/Machek/Oberkofler/Steinmaurer 1971, 92 ; Bittner 1949, 332.
60 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 303 : Schrödinger an Meyer vom 30.11.1927. Zu einem
ähnlichen Urteil kam Kohlrausch, der kritisierte, dass sich die Exner-Lehrkanzel seit längerem in einem
Zustand der »Verwesung« befand. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 239 : Kohlrausch
an Meyer vom 25.7.1935. Ein Überblick über Jägers Forschungs- und Publikationstätigkeit bis 1930 ist
enthalten in AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 229.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369