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Das Zentrum (re-)formiert sich 111
sinnten Intellektuellen aus den Siegerstaaten des Weltkriegs dominiert und ihr An-
spruch, internationale Interessen zu vertreten, sei daher null und nichtig.81 Eine dieser
neuen nationalen Wissenschaftsorganisationen, die in der Radioaktivitätsforschung
eine wichtige Rolle spielte, war die 1920 gegründete Deutsche Atomgewichtskommis-
sion, der neben Max Bodenstein, Otto Hahn, R. J. Meyer und Wilhelm Ostwald auch
Otto Hönigschmid angehörte, der nach dem Krieg von Prag nach München gewech-
selt war.82 1920 wurde unter Federführung der Preußischen Akademie der Wissen-
schaften zudem die Reichszentrale für wissenschaftliche Berichterstattung gegründet.
Sie war, ebenso wie die Atomgewichtskommission, eine Gegengründung zur bestehen-
den internationalen Organisation, in diesem Fall der in London beheimateten Inter-
nationalen Bibliographie.83 Sie sollte der deutschsprachigen Wissenschaftsgemein-
schaft, die sich den Bezug ausländischer Zeitschriften oft nicht leisten konnte, Zugang
zu wissenschaftlichen Kurzberichten ermöglichen.84
Vergleichbare Initiativen, nationale wissenschaftliche Organisationen zu schaffen,
lassen sich in Österreich nach Kriegsende nicht feststellen. Dort suchte die Mehrheit
stattdessen den Schulterschluss mit den deutschen Nachbarn.85 Dies galt auch für
Kongresse und wissenschaftliche Tagungen. Schon vor dem Krieg war die Jahrestagung
der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte einer der wichtigsten Treffpunkte
für Physiker und Physikerinnen aus dem deutschsprachigen Raum, und daran änderte
sich nach 1918 wenig.86 Die deutsche Physikerschaft war zahlenmäßig und wissen-
schaftlich bedeutsam genug, dass ihre Fachveranstaltungen schon bald nach dem Krieg
auch ausländische Physikerinnen und Physiker anzogen. Für viele Österreicher, die
über ein schmales Reisebudget verfügten, boten die deutschen Konferenzen eine will-
81 Vgl. Metzler 2010, 74–75. Dazu zählten unter anderem das International Committee on Atomic
Weights (gegr. 1897), das International Committee for the Publication of Annual Tables of Constants
(gegr. 1909) und die Internationale Radiumstandard-Kommission. Vgl. ebd., 59.
82 Die Kommission erstellte zwischen 1921 und 1930 jährlich einen Bericht über den Forschungsstand und
eine Tabelle mit Atomgewichtswerten, die sich vor allem an deutschsprachige Chemiker richteten.
83 Der »International Catalogue of Scientific Literature« wurde von 1902 bis 1921 von der Royal Society in
London herausgegeben.
84 Vgl. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin, ab sofort : ABBAW,
Preußische Akademie der Wissenschaften, II-XIV–41, Bl. 29–29a : Anlage zu einem Bericht M. Plancks
vor der Akademie über die geplante Arbeitsgemeinschaft deutscher naturwissenschaftlicher Bibliogra-
phien vom 6.10.1919.
85 Vgl. Karo 1925, 7 ; Kernbauer 1999, 57–58. Auf die lange Tradition der deutschsprachigen Universitäten
Österreich-Ungarns, sich am deutschen Wissenschaftssystem zu orientieren, verweist Höflechner 1993,
1, 15. In diesem Sinne argumentiert auch Schrödinger in AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche
303 : Schrödinger an Meyer vom 6.7.1925. Die offiziellen wurden durch private Kontakte gestärkt. Vgl.
Oberkofler 1991.
86 Vgl. Forman 2007, 29–30.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369