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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932114
Trotz ihrer engen Verbindungen ins Deutsche Reich gab es in der Radioaktivisten-
gemeinschaft Österreichs kaum jemanden, der sich dem offensiven nationalistischen
Diskurs deutscher Physiker und Physikerinnen anschließen wollte. Zwar teilten sie
deren Selbstverständnis, als »Kulturträger« eine herausragende gesellschaftliche Posi-
tion einzunehmen.99 Anders als zu Zeiten der Monarchie war der Nationalismus in
Österreich politisch vorerst aber nicht konsensfähig. Der US-amerikanische Historiker
Bruce Pauley beschrieb die Situation treffend : »after 1918 the issue of nationality was
dead in Austria«.100 Meyer wurde dementsprechend nicht müde, das Ideal einer ver-
meintlich apolitischen internationalen Wissenschaftsgemeinschaft zu beschwören.
Seinem Kollegen Frederick Soddy, zu dem der Kontakt während des Krieges vorüber-
gehend ganz abgebrochen war, schrieb Meyer 1920 erleichtert :
»[E]ine unmittelbare Nachricht von Ihnen […] zeigt, dass trotz aller Schrecken und Verwüs-
tungen, die der Krieg und speziell bei uns die dem Kriege folgende Zeit angerichtet haben,
die Ideale der Wissenschaftler sich hüben wie drüben unversehrt erhalten konnten. […] Mit
Ihnen wollen wir hoffen, dass wenigstens in unseren Kreisen ein Wiederaufbau der gemein-
samen Kultur möglichst bald beginnen könne und uns ist es ein Trost, dass nicht alles darin
übereinstimmt, ein so altes Kulturzentrum, wie Wien, dem Ruin und dem Verfall preisgeben
zu wollen.«101
Die in der deutschen Physikerschaft weitverbreitete Denkfigur, Wissenschaft als Ersatz
für die verlorene militärische und industrielle Macht und die erlittenen Gebietsverluste
zu sehen, war in Österreich wenig verbreitet.102 Zumindest in offiziellen Verlautbarun-
gen gingen Physiker und Physikerinnen aus Österreich nicht so weit, auf dem chauvi-
nistischen Kulturnationalismus deutscher Prägung zu beharren und die deutsche
Kriegspolitik halsstarrig zu rechtfertigen. Damit vermieden sie es, sich international
weiter zu isolieren.103
Meyers zurückhaltendes Auftreten und seine höfliche Verbindlichkeit kamen nicht
nur bei den britischen und US-amerikanischen Kollegen gut an. Auch in den kleineren
nordeuropäischen Ländern überwog angesichts der krassen materiellen Not in Öster-
99 Vgl. zum Diskurs im Deutschen Reich Metzler 2010, 61–64.
100 Pauley 1995, 67.
101 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 311 : Meyer an Soddy vom 15.3.1920. Siehe auch ebd., K
18, Fiche 294 : Meyer an Rutherford vom 22.1.1920. Zum Bemühen US-amerikanischer Wissenschaft-
ler, die Kooperationen mit den einstigen Kriegsgegnern wiederzubeleben Fuchs 2002b, 275–276.
102 Siehe zu »Wissenschaft als Machtersatz« Forman 2007, 34, 36–37.
103 Vgl. Metzler 2002, 294, 297.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369