Seite - 118 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932118
Abgesehen von den politischen Spannungen zwischen Frankreich und dem Deutschen
Reich beziehungsweise Österreich mag dies mit dazu beigetragen haben, dass zwischen
Paris und Wien relativ lange Funkstille herrschte. Der wissenschaftliche Austausch kam
erst 1923 wieder in Gang, fast drei Jahre später als der Kontakt nach Großbritannien
und in die USA.120
Die Tatsache, dass radioaktive Präparate in Wien reichlich vorhanden waren, erleich-
terte es, die beruflichen und persönlichen Kontakte ins Ausland bald nach Kriegsende
wieder aufleben zu lassen. Der Verleih außer Haus und der Verkauf radioaktiver Mut-
tersubstanzen waren statutengemäß zwar untersagt, das strenge Verbot galt jedoch nicht
für die radioaktiven Zerfallsprodukte und auch im Fall der Muttersubstanzen wurde es
in begründeten Ausnahmefällen aufgehoben. Vor dem Krieg war die Wiener Akademie
beim Verleih von Muttersubstanzen den Regeln der »Reputationsökonomie« (Ceranski)
gefolgt. Berühmte Radioaktivisten wie Ernest Rutherford und William Ramsay, von
denen sich die Akademie einen Prestigegewinn versprach, erhielten Radium-Präparate
als Leihgaben und durften diese sogar über das Kriegsende hinaus behalten. Angesichts
der desolaten finanziellen Lage, in die das Institut für Radiumforschung Anfang der
1920er Jahre geriet, sah sich die Akademie gezwungen ihren Kurs zu ändern und zumin-
dest vorübergehend den Regeln des Marktes zu folgen. Dennoch versicherte Meyer
seinen britischen Kollegen, dass »niemand von uns [daran] dachte oder denkt […] [für
die verliehenen Radium-Präparate, S. F.] irgendeine Gegenleistung zu beanspruchen.
Wir sind in Österreich stolz darauf, einem Geistesriesen, wie es der Rutherford ist, bei
seinen unvergleichlich schönen Untersuchungen von Nutzen gewesen zu sein.« Es sei
nur ein Hinweis auf den Wandel der Zeiten, dass man sich am Institut für Radiumfor-
schung Gedanken über den Geldwert der Leihgabe mache.121 Rutherford erklärte sich
auf Bitten Meyers schließlich bereit, die entliehenen Präparate zum geltenden Markt-
preis zu erwerben. Gegen Zahlung von 540 Pfund Sterling kaufte er 1921 zunächst 20
Milligramm des geliehenen Radiums, 1928 weitere 250 Milligramm für 3.000 Pfund
Sterling, die er in sechs Jahresraten an die Wiener Akademie überwies.122
Mit dem Verkauf hatte das Institut für Radiumforschung seine schlimmsten Geld-
nöte überstanden.123 Rutherford wiederum war sich des Wertes seiner Verbindung
120 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 349 : Curie an Meyer vom 1.5.1923. Curie hielt al-
lerdings auch zu Kollegen in anderen Ländern vorerst Distanz und berichtete ihre Forschungsergebnisse
vornehmlich ihren französischen Kollegen. Vgl. Hughes 1997, 327.
121 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 256 : Meyer an Lindemann vom 18.7.1920.
122 Vgl. Hughes 1993, Chapter 2 ; Przibram 1950, 27.
123 Rutherford half noch ein weiteres Mal bei der Beschaffung von Geldern für das Wiener Institut. Nach
dem Krieg war das Vermögen des einstigen k. u. k. Generalkonsuls von Österreich-Ungarn in Singapur,
Erwin Zach, von der britischen Regierung beschlagnahmt worden. Zach plante, die Summe von 70.000
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369