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Das Zentrum (re-)formiert sich 129
Radiumfabriken Société Nouvelle du Radium im französischen Gif-sur-Yvette und im
portugiesischen Guarda.168 1923 besuchte Curie wahrscheinlich erstmals die neue Fa-
brik der Union Minière in Olen.169 Auch sie wollte mit der Union Minière zusammen-
arbeiten, wobei ihre Pläne sehr viel weiter reichten als diejenigen des Instituts für Ra-
diumforschung. Die gesamten 1920er Jahre über engagierte sie sich dafür, ein von ih-
rem Institut unabhängiges, nicht-kommerzielles Industrielaboratorium einzurichten,
in dem radioaktive Präparate aus kongolesischen Erzen unter ihrer Kontrolle herge-
stellt und umfassend genutzt werden sollten.170 Marie Curie und ihre Tochter Irène
arbeiteten in den folgenden Jahren besonders eng mit der Union Minière zusammen.
Die Curies berieten die Belgier, wie der Produktionsprozess optimiert werden könne
und informierten sie über laufende Forschungen des Pariser Labors. Im Gegenzug er-
hielten sie aus Brüssel radioaktive Substanzen, darunter eine Reihe radioaktiver Ele-
mente der Actinium-Reihe, zum Selbstkostenpreis oder sogar gratis.171 Im Falle der
Seltenen Erden, die kommerziell zu jener Zeit noch von geringerem Interesse waren als
Radium und Polonium, fuhr die Unternehmensleitung der Union Minière schließlich
aber doch zweigleisig. Nicht nur Meyer beziehungsweise Hönigschmid erhielten Pro-
ben Seltener Erden und die Zusage, dass deren Analyse bezahlt werden würde, sofern
Hönigschmid das Unternehmen im Gegenzug über die Ergebnisse seiner Forschungen
informierte.172 Auch Marie Curie, die seit 1923 Seltene Erden aus belgischer Produk-
tion analysierte und damit die Auswertung des fabrikeigenen Labors der Union Mini-
ère ergänzte, erhielt im Austausch für ihre Beratertätigkeit entsprechende Proben aus
Brüssel.173
Während die Kontakte zwischen Curie und der Brüsseler Unternehmenszentrale
intensiver wurden, nahm die Union Minière wissenschaftliche Dienstleistungen des
Instituts für Radiumforschung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kaum noch in
Anspruch.174 Es bleibt unklar, ob der Tod Ulrichs 1925, der einer der Hauptansprech-
partner gewesen war, dabei eine Rolle spielte.175 Möglicherweise hatte das Unterneh-
men seine Radiumproduktion in Olen auch so weit stabilisiert, dass die messtechni-
sche Unterstützung aus Wien nicht länger erforderlich war. Gerhard Kirsch, der am
168 Vgl. Vanderlinden 1990, 93.
169 Vanderlinden geht davon aus, dass Curie schon 1922 Kontakt mit der Union Minière aufgenommen
hatte. Vgl. Vanderlinden 1990, 94–95.
170 Vgl. Roqué 2001a, 63.
171 Vgl. Roqué 2001a, 57–58. Siehe auch Vanderlinden 1990, 101 ; Weart 1979a, 101.
172 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 250 : Leemans an Meyer vom 13.3.1926.
173 Vgl. MC, ALC, Fiche 2798 : Curie an Koenig vom 10.1.1923.
174 Der letzte im Nachlass Stefan Meyers vorhandene Brief Leemans an Meyer datiert auf den 13.3.1926, in
AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 250.
175 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 254 : Lind an Meyer vom 8.6.1925.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369