Seite - 146 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932146
tut für Radioaktivisten aus Mittel-, Südost- und Osteuropa in der Nachkriegszeit an
Attraktivität verlor. Stattdessen versuchten sie, ihre in die Vorkriegszeit zurückreichen-
den Verbindungen nach Großbritannien, Frankreich und in das Deutsche Reich wie-
deraufleben zu lassen. So war der Mitbegründer des staatlichen radiologischen Instituts
in Prag, František Běhounek, zwischen 1920 und 1922 wiederholt als Gastforscher im
Laboratoire Curie in Paris tätig, und Stanisław Loria, der als Nachfolger Marian von
Smoluchowskis die Lehrkanzel für Physik an der Universität Lwów übernommen hatte,
fragte bei seinem einstigen Chef Ernest Rutherford in Cambridge an, ob er wieder bei
ihm arbeiten könne.259
Das Laboratoire Curie beziehungsweise das Institut du Radium in Paris waren für
den wissenschaftlichen Nachwuchs aus den Nachfolgestaaten der Monarchie auch
deshalb begehrt, weil es dort gute Aussichten gab, ein Stipendium zu erhalten. Curie
selbst pflegte enge Kontakte zu einer Reihe von in- und ausländischen Stiftungen, stets
mit dem Ziel vor Augen, das Personal ihres Instituts zu erweitern und ausländische
Gäste gezielt auf Themen anzusetzen, die sie selbst formulierte.260 Außerdem vergaben
die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn, wie bereits erwähnt, Stipendien für Aus-
landsaufenthalte. Um die Petite Entente zu stärken, flossen beträchtliche staatliche
Mittel, die dem tschechischen und slowakischen Wissenschaftsnachwuchs Studien-
und Forschungsaufenthalte in Frankreich ermöglichten.261 Politische und wirtschaftli-
che Einflüsse lenkten den Strom der Studierenden und Graduierten daher oft direkt
nach Frankreich und nicht nach Österreich. Dies galt umso mehr, als am Institut für
Radiumforschung weiterhin die Regel galt, dass dort »im Allgemeinen nur bereits ab-
solvierte Forscher arbeiten.«262
Meyer warb im In- und Ausland wiederholt damit, dass viele ehemals in Wien tätige
Radioaktivisten inzwischen Professuren bekommen hatten.263 Die meisten dieser Lehr-
259 Vgl. MC, ALC, Fiche 907 : Běhounek an Curie vom 18.9.1921 ; CUL, RC, Add 7653, L 144 : Loria an
Rutherford vom 29.3.1921.
260 Vgl. Boudia 2011, 14. Neben dem IEB und einigen kleineren französischen Stiftungen zählte dazu die
1907 gegründete Carnegie-Curie-Stiftung, die pro Jahr bis zu fünf Stipendien bereitstellte. Vgl. Pestre
1984, 68–77. Eine ähnliche Personalpolitik, die allerdings nur auf den (männlichen) Nachwuchs des
britischen Empire fokussierte, verfolgte Rutherford am Cavendish Laboratory. Vgl. Dean 2003.
261 Es handelt sich um ein Militärbündnis, das die Regierungen der Tschechoslowakei sowie der Königrei-
che Jugoslawien und Rumänien gegen die militärische Gefahr, die von Ungarn ausging, im August 1920
schlossen. Mitte der 1920er Jahre übernahm Frankreich die Funktion einer Schutzmacht für die Staaten
der Petite Entente.
262 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 398 : Fragebogen der Commission de coopération intel-
lectuelle über ausländische Gastforscher vom 8.1.1923.
263 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 396 : Liste der Professuren auf Grund von Arbeiten
im Radiuminstitut vom November 1927. Für den Briten Robert Lawson, der lange Jahre am Institut
tätig gewesen war, wirkte sich der Aufenthalt in Wien keinesfalls positiv auf dessen wissenschaftliches
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369