Seite - 163 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 163
um die Themen zu bearbeiten. Nach der theoretischen Seite fehlt mir hier in Graz jede
Unterstützung. Und das macht sich hier manchmal sehr unangenehm bemerkbar«.344
Während die theoretische Physik in Wien und Cambridge in den späten 1920er Jahren
eine unterschiedliche Rolle spielte, wandte man sich hier wie dort verstärkt alternati-
ven kernphysikalischen Messtechniken zu.345 Die als unzuverlässig geltende Szintillati-
ons-Methode, an der sich der Streit zwischen Pettersson, Kirsch und Rutherford ent-
zündet hatte, trat auch andernorts mehr und mehr in den Hintergrund. Obwohl die
»elektronische Revolution« im Bereich der atomphysikalischen Messtechnik in der
Radioaktivistengemeinschaft auf ein geteiltes Echo stieß, setzte sich der Geiger-Müller-
Zähler allmählich als allgemein anerkanntes Messinstrument durch.346
In Wien befasste sich allerdings nur ein Teil der Atomzertrümmerer mit den neuen
Messmethoden. Kirsch, dessen Ruf im Zuge der Kontroverse mit dem Cavendish La-
boratory schweren Schaden erlitten hatte, beaufsichtigte neben der Herstellung radio-
aktiver Präparate die Arbeiten an beziehungsweise unter Einsatz der Szintillations-, der
Wilsonkammer- sowie der fotografischen Methode, die in Wien maßgeblich durch
Marietta Blau und Hertha Wambacher weiterentwickelt wurde. Die Tatsache, dass
Kirsch an der Szintillations-Methode festhielt, obwohl andernorts schon längst mit
Spitzenzählern gearbeitet wurde, gab der negativen Meinung über ihn neue Nahrung.
Die Arbeitsteilung mit seinem Kollegen Georg Stetter, der sich auf den Bau und die
Weiterentwicklung elektronischer Messgeräte konzentrierte, tat ein Übriges, um ihn
von den gängigen atomphysikalisch-elektronischen Messverfahren mehr und mehr zu
entfremden : »[N]ach dem Grundsatz, (den ich von Pettersson gelernt habe,) zwecks
Erhöhung des eigenen Wirkungsgrades nichts selbst zu machen, was ein anderer für
einen machen kann, […], habe ich mich mit der heute immer mehr in den Vorder-
grund tretenden Verstärkertechnik nie näher befaßt.«347
Der messtechnische Umschwung wurde durch eine neue Generation atomphysika-
lisch ausgebildeter Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler angestoßen,
die die Atomzertrümmerer der ersten Stunde allmählich ablösten. Zu ihnen zählte
Georg Stetter. Anders als Kirsch war er aus der Kontroverse mit dem Cavendish Labo-
ratory ohne größeren Reputationsverlust hervorgegangen. Stetter hatte sich als Funk-
344 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 239 : Kohlrausch an Meyer vom 18.7.1935.
345 Vgl. Abele 2000 ; Hughes 1998b ; Stuewer 1985. Vgl. auch das norwegische Beispiel bei Wittje 2003.
346 Vgl. Hughes 1997, 329 ; Trenn 1986. Korff 2012 diskutierte die Befunde Hughes’ jüngst aus replika-
tionsmethodischer Sicht. Marie Curie weigerte sich lange, den Geiger-Müller-Zähler als zuverlässiges
Messinstrument anzuerkennen. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175 : Blau an Meyer
vom 29.4.1933.
347 BAB, R 1519/70, Bl. 40–41 : Kirsch an Stark vom 23.9.1937.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369