Seite - 166 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932166
andere, darunter überdurchschnittlich viele der Frauen, zu größerer Mobilität gezwun-
gen, da sie am Wiener Institut keine reguläre Bezahlung erhielten. Einige arbeiteten
oder forschten mittels Stipendien im Ausland und bedienten sich dazu vorhandener
Netzwerke der Radioaktivitätsforschung.362 Andere, wie die Physikerin Marietta Blau,
bauten eigenständig Kontakte zur Industrie auf. Blau war in der internationalen Atom-
zertrümmerungsforschung eine der ersten, die sich mit der sogenannten fotografischen
Methode zur Aufzeichnung von Kernspurteilchen wissenschaftlich auseinandersetzte.
Blaus Methode geriet ins Blickfeld der Atomphysik, als die Schwäche der auf der
Ionisationswirkung beruhenden Szintillations-Methode Mitte der 1920er Jahre durch
die Cambridge-Wien-Kontroverse offenkundig wurde.363 Die Anfänge der fotografi-
schen Aufzeichnung radioaktiver Strahlung, die unter dem Begriff Autoradiographie
subsumiert werden können, reichten bis in das 19. Jahrhundert zurück. Den Auftakt
machte 1896 Henri Becquerel mit seiner unfreiwilligen Aufzeichnung radioaktiver
Strahlung aus Uran, das er auf eine Fotoplatte gelegt hatte. Die ersten gezielten Schritte
machte dann der Japaner Kinoshita, als er 1911 in Rutherfords Labor in Manchester
vorschlug, mithilfe der fotografischen Methode die Reichweite und Intensität von
α-Strahlen zu bestimmen.364 Durch die wachsende Verbreitung elektronischer Mess-
methoden in der Radioaktivitätsforschung wurden Fotoplatten für die Messung der
Strahlungsintensität (aus Schwärzungen) in den nächsten zehn Jahren zurückgedrängt,
zumal ihre Ergebnisse zu jener Zeit kaum reproduzierbar waren. Auf Anregung Petters-
sons begann Blau 1925, Kernreaktionen mithilfe von Fotoplatten – hauptsächlich
Röntgenzahnfilm sowie Imperial-Prozessplatten der Firma Agfa – aufzuzeichnen.365
Sie verglich ihre Ergebnisse mit den Messwerten, die Ortner und Stetter mit dem
Röhrenelektrometer erzielt hatten. In der Folgezeit publizierte sie über die fotografi-
sche Wirkung von α-Teilchen und Protonen, beschrieb Prozesse in der Kernspuremul-
sion unter Beschuss solcher Teilchen und versuchte deren Einflüsse zu quantifizieren.366
Blau war eine Pionierin auf dem Gebiet der fotografischen Methode, doch sie war
nicht die Einzige, die sich damit befasste. Am Radiuminstitut in Leningrad widmete
sich L. V. Mysovskij seit den frühen 1920er Jahren der Höhenstrahlungsforschung,
362 Vgl. Rentetzi 2007, Chapter 4, 24.
363 Die Methode dient dem Nachweis der Teilchen, die bei künstlichen Kernreaktionen emittiert werden.
Dabei werden die von den Teilchen an Zinkblechschirmen ausgelösten, optisch nur schwach wahr-
nehmbaren Lichtblitze mit Mikroskopen beobachtet und gezählt. Vgl. Rosner/Strohmaier 2003, 29.
364 Vgl. Galison 1997a, 147.
365 Vgl. DPG 1926, 29. Cecil Powell sprach von einem
– wohl produktionsbedingten
– starken Rückgang
der Empfindlichkeit der verwendeten Platten, die Blau/Wambacher durch ein Bad der Platte in Pina-
kryptolgelb kompensierten. Vgl. Powell/Fowler/Perkins 1959, 17.
366 Vgl. Rosner/Strohmaier 2003, 29, 34.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369